Project Description

646. Nacht

Ich machte mich fort, und nachdem ich einige Tage
gewandert war, begegnete ich in einer Sandwüste einem ehrwürdigen, ganz weiß
gekleideten Greis, der mich freundlich anredete und mich nach dem Ziel meiner
Reise fragte, worauf ich ihm denn meine Geschichte erzählte. Der Greis segnete
mich und lobte mich sehr wegen der Standhaftigkeit, mit welcher ich gehalten,
was ich meinem Vater gelobt hatte. „Mein Sohn,“ sagte er,
„betrübe Dich nicht; Dein tugendhaftes Betragen ist unserm heiligen
Propheten angenehm gewesen, und er hat sich für Dich bei der ewigen Güte
verwendet. Folge mir und ernte den Lohn Deiner Leiden.“ Ich tat, was er
verlangte, und wir gingen in diese Stadt, die damals ganz wüst und wo selbst
dieser Palast ganz zerfallen war. Als wir hier waren, hieß mich der Greis
willkommen und sagte zu mir: „Es ist des Himmels Wille, dass Du hier
herrschen und ein mächtiger Sultan werden sollst.“ Er führte mich hierauf
in untere Gewölbe des Palastes, wo ich zu meinem nicht geringen Erstaunen
große Säcke mit goldenen und silbernen Münzen, Kisten mit den schönsten
Edelsteinen und Haufen von Goldstangen fand, welche, wie mein Führer mir sagte,
von diesem Augenblick an mir gehörten. Ich rief in meinem Erstaunen aus:
„Was aber nützt mir dieser Reichtum in einer entvölkerten Stadt, und wie
kann ich ein Sultan sein, wenn ich keine Untertanen habe?“ Der Greis
lächelte und sagte: „Habe Geduld, mein Sohn, heute Abend wird eine große
Karawane, aus Ausgewanderten bestehend, hier ankommen. Sie suchen einen
Zufluchtsort: Nimm diese Unglücklichen gütig auf, und sie werden Dich zu ihrem
Sultan erwählen.“ Seine Worte bestätigten sich, die Karawane kam, der
Greis forderte sie auf, sich in dieser Stadt niederzulassen. Sie taten es und
wählten seinem Wunsch gemäß mich zu ihrem Herrscher. Mein Beschützer blieb
ein ganzes Jahr hindurch bei mir und lehrte mich herrschen. Der Himmel segnete
meine Bemühungen, Gutes zu tun, der Ruf meiner Freigebigkeit, Gerechtigkeit und
Güte verbreitete sich weit umher, bald war die Stadt mit gewerbefleißigen
Einwohnern angefüllt, welche die verfallenen Gebäude wieder herstellten und
neue errichteten. Das Land umher wurde gut bebaut, und unser Hafen füllte sich
mit Schiffen aus allen Gegenden. Kurz nachher sandte ich nach meiner Familie;
denn ich hatte eine Frau und zwei Söhne zurückgelassen; und ihr könnt Euch
denken, mit welcher Freude wir uns wieder sahen. Mein ehrwürdiger Beschützer
sagte nach Verlauf eines Jahres zu mir: „Mein Sohn, meine Sendung zu dir
ist vollendet, und ich muss Dich verlassen; fahre aber nur fort, wie Du begonnen
hast, und wir werden uns wieder sehen. Wisse, dass ich der Prophet Elias und vom
Himmel zu Deinem Schutz gesandt bin.“ Nachdem er diese gesprochen hatte,
umarmte er mich und verschwand vor meinen Blicken. Ich warf mich voll heißer
Andacht zur Erde und sandte innige Dankgebete zu Gott empor.

Seitdem bin ich immer bemüht gewesen, die Lehren meines
heiligen Lehrers zu befolgen; und ihr seht, wie glücklich ich bin.“

Geschichte
der Prinzessin Ameny

Es waren schon mehrere Jahre verflossen, seitdem ein
König von Indien namens Dscholachan das Reich seiner Väter beherrschte und auf
seinem Thron die Segenswünsche seiner Völker empfing. Zu sehr mit der
Verwaltung seiner Staaten beschäftigt, um neue erobern zu wollen, würde ihm
nichts zu wünschen übrig geblieben sein, wenn er seinen Untertanen nach seinem
Tod das Glück, dessen sie bei seinen Lebzeiten genossen, hätte sichern
können; aber er hatte keinen Sohn, der ihm nachfolgen konnte, und er musste
befürchten, seine Länder die Beute einer Menge kleiner habgieriger und
eifersüchtiger Fürsten werden zu sehen, welche schon in der Mitte des
königlichen Pompes ihre Anspruche blicken ließen. Der schwermütige König
genoss nur halb des Glückes, geliebt zu sein: Die Zukunft vergiftete ihm die
Gegenwart.

Nachdem er vergeblich mehrere indische Prinzessinnen
geheiratet hatte, fasste er den Entschluss, Beischläferinnen aus verschiedenen
Ländern zu nehmen. Der Großwesir erhielt den Befehl, alle Sklavenhändler zu
besuchen, um diejenigen Frauen auszuwählen, die ihm zu Erfüllung des Wunsches
Seiner Majestät am meisten geeignet schienen.

Indem er die Basare der Stadt durchstreifte, bemerkte
dieser Minister unter mehreren Sklaven beider Geschlechter eine junge
verschleierte Sklavin. Als er die Hand ausstreckte, um den Schleier aufzuheben,
verhinderte ihn der Kaufmann, ein Araber, daran und sagte, sie würde sich nur
vor Augen entschleiern, die würdig wären, sie zu betrachten.

„Kennt Ihr,“ erwiderte der Wesir, „einen
Mann, der würdiger ist, die Reize dieser Sklavin zu genießen, als der
Großsultan von Indien? Wisst, dass ich von Seiner Majestät beauftragt bin, ihm
die schönsten Frauen, welche ich irgend zu finden vermag, zuzuführen. Hebt
also diesen Schleier, damit ich sehe, ob diese Sklavin ihm vorgestellt zu werden
verdient, und sagt mir ihren Preis.“

„Ihr mögt noch so sehr in mich dringen,“ rief
der Sklavenhändler, „ich werde diesen Schleier nur vor Eurem Monarchen
aufheben und ihm, wenn er meine Sklavin gesehen hat, sagen, wie teuer ich sie
ihm verkaufen will.“

Der Wesir sah sich genötigt, die beiden Personen in den
Palast zu führen und sie dem Sultan vorzustellen, zu welchem er sagte:

„Herr, hier ist eine Sklavin, die ihr Besitzer auf
eine der gewöhnlichen ganz entgegen gesetzte Weise verkaufen will: Er will dem
Käufer nicht erlauben, den Schleier aufzuheben, der sie bedeckt.“