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644. Nacht

Die fünf Pilgrime begaben sich sogleich in die Wohnung
der Heiligen, deren Höfe mit Bittenden aus allen Gegenden angefüllt waren, so
dass sie Mühe hatten, Zutritt zu erhalten. Da einige von der Dienerschaft ihnen
ansahen, dass sie neu angekommene und sehr ermüdete Fremdlinge wären, so luden
sie sie freundlich in ein Zimmer ein, um sich dort so lange auszuruhen, bis sie
ihrer Gebieterin ihre Ankunft gemeldet hätten. Als dies geschehen war, brachten
sie ihnen die Nachricht, dass sie vorgelassen und ihre Ansuchen mit Muße
gehört werden sollten, sobald die Menge sich zerstreut hätte. Es wurden ihnen
Erfrischungen vorgesetzt, und nachdem sie ihre Abwaschungen verrichtet hatten,
setzten sie sich zum Essennieder, die Gastfreundlichkeit ihrer frommen Wirtin
preisend, welche, von ihnen ungesehen, ihre Personen und Gesichtzüge durch ein
Gitter beobachtete. Ihr Herz schlug mit freudigem Entzücken, als sie ihren
längst verlorenen Gatten wieder sah, dessen Abwesenheit sie zu beweinen nicht
aufgehört hatte; und wie groß war ihre Verwunderung, ihn in Gesellschaft
seines verräterischen Bruders (den sie trotz den mit ihm vorgegangenen
Veränderungen erkannte), des Kameltreibers, der sie hatte ermorden wollen, des
jungen Mannes, der sie so undankbar verraten, und des Schiffspatrons, der sie
als Sklavin gekauft hatte, zu finden. Nur mit Mühe unterdrückte sie ihre
Gefühle; da sie sich aber nicht zu erkennen geben wollte, bevor sie nicht ihre
Abenteuer gehört hätte, so zog sie sich in ihr Zimmer zurück, ließ dort
herzerleichternden Tränen freien Lauf, warf sich zur Erde und dankte dem
Beschützer der Gerechten, der ihre Geduld, womit sie so viele Leiden ertragen,
durch aufeinander folgende Segnungen belohnt hatte und sie nun endlich dem
Geleibten ihres Herzens wiedergab. Nach Beendigung ihrer Andacht schickte sie zu
dem Sultan und ließ ihn bitten, ihr einen vertrauten Beamten zu senden, der die
Erzählungen von fünf neu angelangten Fremdlingen mit anhören möchte. Als
dieser gekommen war, versteckte sie ihn an einen Ort, wo er ungesehen zuhören
konnte, setzte sich sodann verschleiert auf ihr Sofa, ließ die fünf Pilger
rufen und redete sie mit folgenden Worten an: „Seid mir in meinem Haus
willkommen, ihr Brüder! Mein Rat und meine Gebete haben zuweilen mit des
Himmels Beistand den reuigen Sünder getröstet; aber die, welche meiner Hilfe
begehren, müssen mir vertrauen. Ich kann nicht mit Erfolg für sie beten, wenn
ich ihre Vergehen nicht genau kenne, und so müsst ihr mir Eure Geschichte, ohne
irgend etwas zu verhehlen, zu verschleiern, zweideutig darzustellen, der
strengsten Wahrheit gemäß erzählen und bedenken, dass die Gebete, die man
für einen Lügner zum Himmel sendet, nur zu seinem eigenen Verderben
gereichen.“ Hierauf befahl sie, da sie jeden einzeln hören wollte, dem
Kadi, zu bleiben, und den übrigen, sich zu entfernen. Der gute Kadi, der keine
Sünden zu beichten hatte, erzählte seine Pilgerschaft nach Mekka, die
vorausgesetzte Untreue seiner Gattin, und wie er dadurch zu dem Entschluss
bewogen worden, seine Tage mit dem Besuch heiliger Orte und Personen
zuzubringen, was ihn denn auch zu ihr, einer so berühmten Heiligen, getrieben
hätte, um ihrer erbaulichen Unterhaltung zu genießen und sie um die Gunst
ihrer Fürbitte für seine unglückliche Frau anzuflehen. Als er zu Ende war,
schickte ihn die Heilige in ein anderes Gemach und ließ dann seine Gefährten
einen nach dem andern kommen und erzählen. Sie wagten es nicht, irgend etwas zu
verhehlen, und erzählten ihre gegen sie verübten Grausamkeiten, nicht ahnend,
dass sie ihre Schuld dem Schlachtopfer ihrer Leidenschaften bekannten. Hierauf
befahl die Frau des Kadis dem Beamten, alle fünfe vor den Sultan zu führen und
ihm ihre Bekenntnis mitzuteilen. Der Sultan verdammte die vier Verbrecher zum
Tod, und der Scharfrichter bereitete sich schon zu ihrer Hinrichtung, als die
herbeikommende heilige Frau um Vergebung für sie bat und sich ihrem Gatten zu
seiner unaussprechlichen Freude zu erkennen gab. Der Sultan erfüllte diese
bitte und entließ die Verbrecher, bat jedoch den Kadi, an seinem Hof zu
bleiben, an welchem er das hohe Amt eines Oberrichters sein übriges Leben
hindurch zu seiner Ehre und zur Zufriedenheit aller derjenigen verwaltete, denen
er Recht sprach. Er und seine treue Gattin lebten als Muster der Tugend und
ehelicher Zärtlichkeit. Der Sultan setzte seiner Gunst gegen sie keine Grenzen
und brachte zuweilen ganze Abend in freundlichem Gespräch mit ihnen zu, dessen
Inhalt meistens der Wechsel des menschlichen Lebens und die Güte der Vorsehung
war, die durch ihren allmächtigen Willen ein Missgeschick, welches die
Sterblichen für ein rettungsloses ansehen, in ein vollkommenes Glück
verwandelt. „Ich selbst,“ sagte der Sultan, „bin ein schlagendes
Beispiel von der Beschützung des Himmels, wie ihr, meine Freunde, aus meinen
Abenteuern erfahren sollt.“ Er erzählte sodann folgendes: