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638. Nacht

„Setzt Euch, guter Derwisch, und ich will Euch die Sache
erklären. Wisst, dass die Erfahrung mich belehrt hat, wie man auf dem Gipfel des
Glücks immer einen Unfall und auf der untersten Stufe des Unglücks immer eine
Rettung zu erwarten hat. Zu der Zeit, als ich noch Wesir war, das Volk mich
wegen meiner Milde leibte und der Sultan, dessen Ehre und Vorteil immer der
Gegenstand meiner Sorge waren, und für den ich selbst in diesem finstern Kerker
nicht zu beten aufhörte, mich auszeichnete, genoss ich eines Abends, mit einigen
Freunden auf einer Barke umherfahrend, der frischen Luft. Wir tranken dabei
Kaffee, und die Tasse, welche ich in meiner Hand hielt, und welche aus einem
einzigen Smaragd von unermesslichem Wert gemacht und mir sehr lieb war,
entschlüpfte mir und fiel ins Wasser, worauf ich die Barke halten ließ und nach
einem Taucher sandte, dem ich eine große Belohnung versprach, wenn er mir die
Tasse wiederbrächte. Er entkleidete sich, bat mich, ihm die Stelle zu zeigen, wo
sie ins Wasser gefallen war, und ich, der ich gerade einen prächtigen
Diamantring in der Hand heilt, warf ihn in der Zerstreuung in den Fluss. Als ich
mich über meine Gedankenlosigkeit laut ausschalt, fuhr der Taucher schnell in
das Wasser hinab und kam in zwei Minuten wieder mit der Tasse, in welcher auch
der Ring lag, zum Vorschein. Ich belohnte ihn reichlich und freute mich über die
Wiedererlangung meiner Juwelen, als mich plötzlich die Besorgnis überfiel, einem
solchen Glück müsse notwendig ein Unglück folgen. Diese Betrachtung machte mich
schwermütig, und ich kehrte mit ahnungsvoller Traurigkeit nach Hause zurück, und
nicht ohne Grund: Denn noch an demselben Abend klagten mich meine Feinde bei dem
Sultan fälschlich an, der ihnen glaubte und mich am folgenden Morgen in diesem
Kerker sperren ließ, in welchem ich nun sieben Jahr bei Brot und Wasser gesessen
habe. Gott hat mir jedoch Ergebung in seinen Willen verliehen, und es
hat sich heute etwas ereignet, was mir die überzeugung einflösst, dass ich
noch vor Abend in Freiheit kommen und die Gunst des Sultans wiedererlangen
werde. Ihr sollt wissen, ehrwürdiger Derwisch, dass ich heute morgen ein
unwiderstehliches Gelüst fühlte, etwas Fleisch zu essen, und den Kerkermeister
bat, mein Gelüst zu befriedigen. Der Mann, durch mein Geschenk bewogen, brachte
mir das Gewünschte, sagte mir aber, es wäre das erste und das letzte Mal, dass
er den erhaltenen Befehlen zuwiderhandelte. Ich freute mich auf einköstliches
Gericht, als ich jedoch vor dem Essen meine gewohnte Abwaschung verrichtete, kam
eine gewaltige Ratte aus ihrem Loch und bemächtigte sich der auf dem Boden
stehenden Speise. Ich wurde beinahe ohnmächtig vor Schrecken und konnte mich
der Tränen nicht enthalten. Als ich mich aber wieder fasste und zu trösten
suchte, kehrte die Hoffnung in mein Gemüt zurück, und ich stellte die
Betrachtung an, dass, gleichwie die Ungnade und die Einkerkerung unmittelbar auf
die Wiedererlangung meines Bechers und Ringes gefolgt wären, nun auf diesen
Unfall, den größten, der mir im Kerker begegnen konnte, ein Glücksfall für
mich zu hoffen wäre. In dieser überzeugung beredete ich den Kerkermeister zu
der Erlaubnis, meine Leute wissen zu lassen, dass sie mein Haus zu meiner
Rückkehr in dasselbe bereithalten sollten.“

Der verkleidete Sultan fühlte bei jedem Wort, das der
Wesir sprach, mehr und mehr, wie ungerecht er gegen ihn gehandelt, und hatte
alle Mühe, seine Derwischrolle fortzuspielen. Da er aber seinen Besuch im
Gefängnis nicht wollte bekannt werden lassen, so hielt er an sich und nahm von
dem Minister Abschied, indem er sagte, er hoffte, seine Weissagung würde
erfüllt werden.

Als er in seinen Palast gekommen war, kleidete er sich um
und schickte sogleich dem Wesir durch ein ansehnliches Geleit, das ihn an den
Hof bringen sollte, ein Ehrenkleid. Seine Ankläger wurden durch Einziehung
ihrer Güter und Einkerkerung bestraft. Der Wesir wurde von dem Sultan mit der
größten Auszeichnung empfangen und in Gegenwart der Hauptleute mit neuen
Würden und Ehren bekleidet. Er nahm ihn hierauf in sein Kabinett, umarmte ihn,
bat ihn, die Ungerechtigkeit, deren Opfer er gewesen, zu vergessen, erzählte
ihm, dass er ihn verkleidet in seinem Kerker besucht hätte, und ließ ihm
hierauf die Freiheit, glücklich und zufrieden in seinen Palast zurückzukehren.