Project Description

629. Nacht

Harun
Arreschyds Abenteuer

Als der Kalif Harun Arreschyd einmal bei übler Laune war,
fragte er seinen Verschnittenen Mesrur, was er tun sollte, um sich die Grillen
zu vertreiben, worauf ihm dieser vorschlug, in seinem Garten spazieren zu gehen,
dort frische Luft zu schöpfen, der schönen Aussichten zu genießen und sich am
Gesang der Vögel zu erfreuen. Harun erwiderte, dass er dazu keine Lust hätte.
„Habt Ihr in Eurem Harem nicht die schönsten Frauen, die es gibt?“ –
„Jawohl, aber sie machen mir Langeweile, und ich gähne bei den reizendsten
Schönheiten.“ – „Wenn Ihr die Kostbarkeiten und Seltenheiten Eures
Schatzes besäht, so würde Euch das vielleicht ergötzen.“ – „Ich bin
aller dieser Dinge so gewohnt,, dass sie gar keinen Eindruck mehr auf mich
machen.“ – „Wohlan, so ruft Eure Minister und Gelehrten zusammen und
unterhaltet Euch mit ihnen über Staatskunst und wissenschaftliche
Gegenstände.“ – „Der Himmel bewahre mich vor dem Narrenpack!“ –
„Wenn also gar nichts Euer Majestät Vergnügen macht, so zeiht Euren
Säbel und haut Eurem getreuen Diener den Kopf ab; vielleicht ergötzt Euch der
Anblick meines Blutes.“ Dieser Einfall belustigte den Kalifen, und er
sagte: „In der Tat, Mesrur, ich habe zu nichts Lust, als eine Geschichte zu
hören; geh also und sieh, ob sich unter meinen Leuten jemand befindet, der mir
eine erzählen kann.“ Mesrur ging und kam sogleich mit Ali-Ebn-Mansur aus
Damaskus zurück, der dem Kalifen eine Geschichte zweier Liebenden aus Bagdad
vortrug, welche diesen jedoch so wenig ergötzte, und die er vielen andern
Geschichten so ähnlich fand, dass er anfing einzuschlafen und dem Erzähler
aufzuhören befahl. Da der Kalif nun die Lust, sich etwas erzählen zu lassen,
verloren hatte, so beschloss er, mit Mesrur und dem Wesir Giafar verkleidet
einen Gang durch die Stadt zu machen.

Der Wesir suchte ihm diesen Vorsatz auszureden, indem er
vorstellte, es wäre leicht möglich, dass irgend eine gemeine Person, die ihn
nicht erkennte, ihn beleidigte und ihn in seinem ärger darüber zu einer
Bestrafung reizte, welche ihm nachher leid tun könnte. „Es geschehe, was
da wolle,“ versetzte der Kalif, „mich soll nichts beleidigen.“
Hierauf verließen sie den Palast durch eine geheime Tür, und nachdem sie
einige Straßen durchwandelt hatten, sahen sie ein prächtiges Gebäude, dessen
stattlicher Torweg durch eine goldene Lampe erleuchtet war. Vor dem Eingang hing
ein gestickter Vorhang, auf welchem mit goldenen Buchstaben folgender Vers
eingewirkt war:

„Wer nach dem fragt, was ihn nichts angeht, wird bald
erfahren, was ihm nicht gefällt.“