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624. Nacht

„Ich beschwöre Dich bei Gott, o Haus, verkünde dem
Geliebten meinen Schmerz, das Zeichen meiner Liebe.
Und begrüße ihn mit dem reinsten Gruß von mir; denn ich muss fort von hier
und weiß noch nicht, wohin.
Bei Nachtzeit eilen sie mit mir heimlich von hinnen; von dem Ort meiner
Bestimmung ist mir nichts bekannt.
Die Flügel des Waldes bedecken die Reise, während die Vögel des Waldes auf
den ästen weinen und wehklagen.
Sie scheinen mir die Trennung von meinem Geleibten verkünden zu wollen.
Der bittere Kelch der Trennung ist für mich gefüllt, und das Geschick zwingt
uns, ihn zu leeren.
Doch ich mische dieses Getränk mit süßer Hoffnung; aber ohne Dich, Geliebter,
ist Hoffnung von geringem Nutzen!“

Als am folgenden Morgen der Geleibte wie gewöhnlich unter
dem Balkon erschien, auf welchem er seine Geliebte zu sehen hoffte, las er die
unwillkommene Nachricht, die ihn auf einige Zeit seiner Sinne beraubte. Als er
wieder etwas zu sich gekommen war, beschloss er, obgleich er des Sultans
Hauptgünstling war, den Hof zu verlassen und seine Geliebte aufzusuchen. Er
verließ, in eine Mönchskutte gekleidet, am folgenden Abend die Stadt und
wanderte, sich der Vorsehung empfehlend, ohne zu wissen, wohin. So reiste er
viele Wochen, ohne irgend eine Spur seiner Geliebten zu finden, als ihm
plötzlich, da er eben durch eine dicken Wald ging, ein ungeheurer Löwe
begegnete, dem er nicht entrinnen zu können glaubte; und nachdem er für das
Glück seiner Geliebten gebetet und seine Seele Gott und dem Propheten empfohlen
hatte, überließ er sich seinem Geschick und erwartete den Sprung und Anfall
des Verschlingers. Wie groß war daher sein Erstaunen, als das königliche Tier,
anstatt ihn zu seiner Beute zu machen, sich ihm freundlich näherte, ihm die
Hände leckte und ihn mit einem mitleidigen Blick ansah! Es ging um ihn herum
und dann langsam vorwärts, wobei es sein Haupt bewegte, gleichsam zum Zeichen,
dass der Jüngling ihm folgen sollte. Ins-al-Wudschud tat es und wurde von dem
Löwen durch den Wald geführt. Plötzlich bleib das Tier, einen hohen Berg
erklimmend, vor dem Eingang einer Höhle stehen, die mit einem eisernen Tor
versperrt war, bewegte sodann sein Haupt, leckte seinem Begleiter nochmals die
Hände und ging in den Wald zurück. Der Jüngling näherte sich nun der Höhle,
und nachdem er an das Tor geklopft hatte, wurde es von einem ehrwürdigen
Einsiedler geöffnet, der ihn willkommen hieß, ihm warmes Wasser brachte, um
seine Füße zu waschen, und ihm allerlei Erfrischungen vorsetzte. Als er
gegessen hatte, fragte ihn der Einsiedler, wie er in eine so wüste Gegend
käme; und nachdem Ins-al-Wudschud seine Abenteuer erzählt hatte, rief jener
aus: „Du bist ein Günstling des Himmels, sonst hätte Dich der Löwe
verschlungen, verzweifle also nicht an einem glücklichen Ausgang; denn meine
Seele sagt mir, dass Du glücklich sein wirst; auch soll es Dir an meinem
Beistand nicht fehlen.“ Nachdem Ins-al-Wudschud dem Einsiedler für seien
Gastfreundschaft und seien großmütigen Anerbietungen gedankt hatte, sagte ihm
dieser, dass er seit beinahe zwanzig Jahren kein menschliches Antlitz gesehen
außer ein paar Tage vor seiner Ankunft, wo er bei einer Wanderung über die
Berge unten am Rand des großen Sees ein Lager und in diesem ein Gewühl von
teilweise sehr reich gekleideten Männern und Weibern erblickt. Ein Teil davon
hätte sich auf einer stattlichen Jacht eingeschifft, und die übrigen hätten
sodann, nach dem sie von ihnen Abschied genommen, ihre Zelte abgebrochen und
ihren Rückweg angetreten. „Höchstwahrscheinlich,“ fuhr er fort,
„hat diese Jacht Deine Geliebte in das Schloss geführt, welches auf einer
inmitten des Sees gelegenen Insel steht. Ist dies der Fall, so sollst Du bald
sicher landen; im übrigen muss die Vorsicht Deine Leiterin sein. Ich will diese
Nacht Deiner in meinen Gebeten gedenken und nachsinnen, was ich zu Deinem Besten
tun kann.“ Als er dies gesagt hatte, führte der Einsiedler den Wanderer in
eine Kammer und überließ ihn dem Schlaf.