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622. Nacht

Beim Anblick des Standbildes übermannte ihn das Gefühl,
er seufzte und fiel in Ohnmacht, worauf ihn die Wachen aufhoben und in den
Palast trugen. Als er dort wieder zu sich gekommen war, staunte er über die
Achtung und Aufmerksamkeit, welche ihm die Bedienten erwiesen, und über die
glänzende Art, mit welcher man für ihn sorgte; aber er fragte vergebens nach
der Ursache seiner Gefangennehmung, und die einzige Antwort, welche er erhielt,
lautete: „Habt Geduld, Herr, und verhaltet Euch ruhig, bis die Vorsehung
Euch aus Eurem Gefängnis befreien wird!“ Bald nachher gelangte auch der
Schiffshauptmann, der von Hafen zu Hafen gereist war, um sein verlorenes Schiff
wieder zu finden, in diese Stadt und begab sich, da er erfuhr, mit welcher
Gastfreundschaft alle Fremde in der Karawanserei des Sultans aufgenommen
würden, vor deren Torweg, hatte aber kaum seine Augen auf das Standbild
geworfen, als er ausrief: „Welche ähnlichkeit mit dem listen, jedoch
tugendhaften Weib, die mich um mein Eigentum brachte, indem sie mir mein Schiff
stahl.“ Unmittelbar nach dieser äußerung wurde er von den Wachen
ergriffen, nach dem Palast gebracht und daselbst mit Güte behandelt. Nach
Verlauf weniger Tage erschienen auch der Sultan und der Wesir, dessen Tochter
mit den neununddreißig Mädchen von der unternehmenden Heldin dieser Geschichte
entführt worden war, vor dem Torweg der Karawanserei und riefen beim Anblick
des Standbildes aus: „Wie ähnlich sieht dies Bild derjenigen, die uns
unserer Kinder beraubte! O dass wir sie doch auffinden und uns an ihrer
Verräterei rächen könnten!“ Als sie dies gesagt hatten, wurden sie
ergriffen und in Zimmer des Palastes gebracht, die ihrem Rang angemessen waren.
Kurze Zeit darauf kam auch der Anführer der Räuber, der voll brennenden
Durstes war, seine Genossen zu rächen, und der in der Hoffnung, den Gegenstand
seiner Wut zu finden, von Ort zu Ort reiste, vor dem Torweg an und rief beim
Anblick des Standbildes heftig aus: „Gewiss ist dies ein Abbild meiner
Quälerin! O dass ich doch sie selbst finden könnte, um das Blut meiner Freunde
durch das ihrige zu sühnen!“ Kaum hatte er ausgeredet, als die Wachen am
Tor sich seiner bemächtigen, ihm Hände und Füße banden und ihn in den Palast
schleppten, wo er in einen elenden Kerker eingesperrt wurde und die schlechteste
Kost erhielt.

Als nun der vermeintliche Sultan alle diese Personen in
ihrer Gewalt hatte, bestieg sie eines Morgens in großer Versammlung ihren Thron
und befahl, sie vor sich zu bringen. Als sie ihr alle ihre Ehrfurcht bezeigt
hatten, befahl sie ihnen, die Veranlassung ihrer Reise nach der Hauptstadt zu
erzählen; aber da die königliche Gegenwart sie unfähig machte, auch nur ein
Wort vorzubringen, so rief sie aus: „Da ihr nicht reden könnt, so will ich
reden,“ und nun erzählte sie jedem zu seinem höchsten Erstaunen seine
Abenteuer. Hierauf gab sie sich zu erkennen und fiel ihrem Vater und ihrem
geleibten um den Hals, mit welchen sie sich in ihre geheimen Gemächer
zurückzog. Der Sultan und der Wesir fühlten sich glücklich in der
Gesellschaft der Tochter des letzteren und der anderen Frauen. Der
Schiffshauptmann wurde, da er durch seine Leiden sein treuloses Betragen
gebüßt hatte, begnadigt und ihm sein Schiff wiedergegeben. Aber der Anführer
der Räuber wurde, damit er dem menschlichen Geschlecht nichts Böses mehr
zufügen könnte, auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Nach den nötigen
Vorbereitungen wurde in einigen Tagen die Doppelhochzeit des heldenmütigen
Fräuleins und ihrer Freundin, der Wesirstochter, mit ihrem treuen Geliebten
gefeiert, diesem der Thron eingeräumt, und die beiden Frauen lebten glücklich
und ohne Eifersucht mit ihrem Gatten, so gleichmäßig verstand er seine Gunst
zu teilen. Der Sultan und der Wesir, nachdem sie einige Zeit an dem Hof
zugebracht hatten, nahmen Abschied und kehrten unter einer Begleitung in ihre
Heimat zurück; aber die Tochter des Wesirs und die neununddreißig Mädchen
konnten nur dazu überredet werden, den Sultan und den Wesir zu begleiten; denn
ihre Anhänglichkeit an ihre edle Herrin war so groß, dass sie alsbald
zurückkehrten und an die Vornehmsten des Hofes verheiratet wurden. Jahre
ungewöhnlichen Glückes gingen an den Abenteurern dieser Geschichte vorüber,
bis der Tod, der Zerstörer aller Dinge, sie zu dem Grab führte, welches einst
Jahrhunderte lang unser aller Ruheplatz werden wird, bis der Engel der
Auferstehung seine Posaune bläst.