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621. Nacht

Das verkleidete Fräulein wurde augenblicklich in den
Palast geführt, auf einen prächtigen Thron gesetzt und unter dem Zuruf des
Volkes zum Herrscher eines großen Reiches erklärt. Auch waren ihre Fähigkeiten
wirklich ihrem hohen Beruf gewachsen. Nach wenigen Tagen bot der Wesir dem neuen
Sultan seine Tochter zur Gattin an, und da sein Anerbieten angenommen wurde, so
feierte man das Hochzeitsfest mit der äußersten Pracht; aber wie groß war das
Erstaunen und die Täuschung der Braut, als der Sultan, nachdem er sich mit ihr
in das Schlafgemach begeben, anstatt ihr zu liebkosen, sie mit Kälte und
Zurückhaltung behandelte, von ihrer Seite aufstand und die Nacht im Gebet
zubrachte. Als die Sultanin am Morgen, von ihrer Mutter befragt, dieser das
Betragne ihres Mannes erzählte, so äußerte die Mutter, er wäre vielleicht von
Jugend auf übertrieben bescheiden, aber mit der Zeit würde die Liebe schon ihre
Wirkung hervorbringen. Da jedoch mehrere Nächte auf gleiche Weise vergingen, so
konnte die durch solche Kälte tief gekränkte Braut sich nicht länger
zurückhalten und sagte: „Warum, o Herr, wenn ich Euch missfiel, nahmt Ihr mich
zur Frau? Seid Ihr jedoch nicht wie andre Männer, so sagt es mir, und ich will
Euren Ruf schonen und mein Unglück stillschweigend ertragen.“ Das durch diese
Worte gerührte Fräulein versetzte: „Reizende Prinzessin, ich wollte, ich wäre,
wofür Ihr mich haltet; aber ich bin gleich Euch ein durch Liebe unglückliches
Weib.“ Sie erzählte ihr hierauf ihre wunderbaren Abenteuer seit ihrer Flucht aus
dem väterlichen Haus, wodurch die Tochter des Wesirs so bewegt wurde, dass sie
ihr ewige Freundschaft gelobte, ihr versprach, verschwiegen zu sein und so lange
mit ihr zu leben, bis das Geschick ihren Geliebten herführen würde. Dagegen
versprach ihr das Fräulein zur Erwiderung ihrer Güte, dass, wenn der Gegenstand
ihrer Zuneigung jemals zu ihr zurückkehren würde, eine Heirat zwischen ihm und
ihnen beiden geschlossen werden und sie dabei den Vorzug haben sollte. Als die
beiden Freundinnen diese übereinkunft miteinander getroffen hatten, gewann die
Tochter des Wesirs ihre Heiterkeit wieder und fand Mittel, ihre Eltern und
Verwandten von der Vollziehung der Heirat zu überzeugen. Von dieser Zeit an
lebten sie vollkommen glücklich miteinander, indem die eine die Macht eines
Sultans zur Zufriedenheit der Untertanen ausübte und die andre die Rolle einer
zufriedenen und gehorsamen Ehefrau spielte, beide sich aber ängstlich nach ihrem
gemeinschaftlichen Gatten sehnten. Da die Hauptstadt des Königreichs ein
Marktplatz für die meisten Völker der Welt war, so ersann der vermeintliche
Sultan folgende List zur Wiederfindung des Geliebten, indem sie nicht zweifelte,
dass er die ganze Welt durchreisen würde, um den Gegenstand seiner Liebe
aufzusuchen. Sie erbaute eine prächtige Karawanserei und stattete sie mit
kalten und warmen Bädern und jeder Bequemlichkeit für ermüdete Reisende aus.
Als diese vollendet war, ließ sie bekannt machen, dass Fremde aus allen Teilen
der Welt darin willkommen sein und mit allem Nötigen versorgt werden sollten,
bis sie sich eine Wohnung in der Stadt gewählt und eingerichtet hätten oder
weiterreisen wollten. über das Tor dieses Gebäudes ließ sie ihr eignes sehr
ähnliches Standbild setzen und befahl den Wachen, dass sie jeden Fremden, der
bei dem Anblick des Standbildes bewegt schiene oder gar durch Worte zu verstehen
gäbe, dass er das Urbild kenne, sogleich festnehmen und in den Palast bringen
sollten. Es waren kaum einige Wochen vergangen, als der Vater der unternehmenden
jungen Herrin, welcher viele tausend Meilen weit gereist war, um seien Tochter
aufzusuchen, vor diesem Tor ankam und, als er das Standbild erblickte, ausrief:
„Ach, welche ähnlichkeit mit meinem armen verlorenen Kind!“ Er wurde
sogleich in den Palast geführt, erhielt eine prächtige Wohnung und wurde mit
der größten Achtung behandelt, jedoch über die Ursache seiner Einsperrung und
sein künftiges Schicksal in vollkommener Unwissenheit erhalten. Nicht lange
nachher kam auch sein trostloser Neffe an, der, seitdem ihn der Schiffshauptmann
so verräterisch verlassen hatte, von Stadt zu Stadt gewandert war in der
Hoffnung, seien Geliebte wieder zu finden, und nun vor der Karawanserei anlangte.