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619. Nacht

Geschichte
der syrischen Liebenden

Es lebten vormals in der Stadt Damaskus zwei Brüder, der
eine arm und der andere reich. Der erstere hatte einen Sohn und der letztere
eine Tochter. Als nun der Arme starb, hinterließ er seinen eben zum Jüngling
heranreifenden Sohn unter dem Schutz seines reichen Oheims, der mit väterlicher
Sorgfalt sich des jungen Menschen annahm, bis dieser, der mit seiner Muhme ein
Liebesverständnis hatte, sie zur Ehe verlangte, was der Vater verweigerte, der
ihn aus dem Haus trieb. Das junge, ihn glühend liebende Mädchen gab jedoch
ihre Zustimmung zu gemeinschaftlicher Flucht, und nachdem sie in einer Nacht aus
der Wohnung ihres Vaters entschlüpft war, begab sie sich zu dem Gegenstand
ihrer Leibe, der zwei Pferde und ein Maultier zur Fortbringung ihres Gepäckes
bereithielt. sie reisten die ganze Nacht hindurch und erreichten am Morgen einen
Seehafen, woselbst sie ein segelfertiges Schiff fanden, in welches sich die
junge Schöne begab, während der Liebhaber jedoch am Ufer blieb, um die Pferde
und das Maultier zu verkaufen. Während er nun auf dem Markt einen Käufer
suchte, erhob sich ein günstiger Wind, und der Schiffspatron ließ die Anker
lichten, die Segel aufspannen und fuhr von dannen, ohne auf die Bitten des
Mädchens, deren Schönheit ihn bezaubert hatte, zu achten, die ihn bat, er
möchte doch die Rückkehr ihres Geleibten abwarten oder sie ans Ufer senden. Da
sie sich nun so gefangen sah, so nahm sie, die ein starkmütiges Weib war,
anstatt sich in nutzlosen Klagen zu erschöpfen, ein vergnügtes Wesen an, ließ
sich die Artigkeit des verräterischen Patrons mit anscheinender Nachgiebigkeit
gefallen und gab ihre Einwilligung, ihm in dem ersten Hafen, in welchen sie
gelangen würden, ihre Hand zu reichen. Bei dieser Versicherung beruhigte er
sich und benahm sich gegen sie mit anständiger Ehrerbietung und liebevoller
Hochachtung. Endlich ging das Schiff in der Nähe einer Stadt vor Anker, in
welche sich der Schiffshauptmann begab, um Vorbereitungen zu seiner Hochzeit zu
machen; aber das Fräulein redete, während er am Ufer war, die
Schiffsmannschaft an, setzte ihr sein verräterisches Betragen gegen sie so
kräftig auseinander und versprach so reichlichen Lohn, wenn man sie zu ihrem
Geleibten in den Hafen, von welchem sie herkamen, zurückführen wollte, dass
die wackeren Matrosen zu ihren Gunsten bewegt wurden, die Segel aufspannten und
ihren Herrn sich selbst überließen. Nach einigen Tagen günstigen Wetter erhob
sich ein scharfer entgegenwehender Wind, der das Schiff weit aus dem rechten Weg
trieb und es nötigte, in den ersten besten Hafen einzulaufen, der zu der
großen Hauptstadt eines mächtigen Sultans gehörte, dessen Beamte an Bord
kamen, um das Schiff zu untersuchen und nach seiner Ladung und Bestimmung zu
fragen. Da sie nun mit großem Erstaunen fanden, dass eine Frau von
ausgezeichneter Schönheit es befehligte, so benachrichtigen sie den Sultan von
ihren Reizen, der sie nun zu besitzen wünschte und ihr einen Heiratsantrag
machen ließ, in den sie scheinbar einwilligte, worauf der Sultan die
glänzendsten Vorbereitungen zu dem Hochzeitsfest anordnete. Als alles in
Bereitschaft war, sandte er die Tochter seines Wesirs mit anderen Frauen,
neununddreißig an der Zahl, prächtig gekleidet, ab, um der Braut aufzuwarten
und sie ans Ufer zu begleiten. Sie wurden von dem listigen Fräulein gnädig
empfangen und eingeladen, sich in der großen Kajüte zu erfrischen, welche sie
mit köstlichen Teppichen geziert hatte, und wo sie einen prächtigen Imbiss
auftragen ließ, zu welchem man sich niedersetzte. Sie schickte hierauf die
Boote fort, in welchem sie gekommen waren, und ließ dem Sultan sagen, sie
würde die Frauen bis zum nächsten Morgen an Bord behalten und dann mit ihnen
ans Land kommen, um ihre Hochzeit zu feiern. Sie benahm sich gegen ihre Gäste
mit so einnehmender Freundlichkeit, dass sie alle einstimmig ihre künftige
Sultanin bewunderten und an dem Imbiss mit dem größten Vergnügen teilnahmen.