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616. Nacht

Als er mir dies gesagt hatte, fragte ich ihn, wo der
Wohnplatz seiner Geliebten und seines glücklichen Nebenbuhlers wäre. Er
erwiderte: „Nahe am Gipfel jenes Berges, von welchem sie, sooft die
Gelegenheit es ihr vergönnt, in der Stille der Nacht, wenn alles schläft, sich
zu meinem Zelt herabwagt, wo wir gegenseitig unserer Gesellschaft genießen:
Aber glaube mir, Bruder, unsere Leidenschaft ist unschuldig und fromm. Deshalb
lebe und wohne ich hier, wie Du es siehst, und während sie mich besucht,
schwinden die Stunden wonnevoll dahin, bis Allah seine Vorherbestimmung
erfüllen und entweder unsere Beständigkeit in dieser Welt belohnen oder uns
zusammen in das Grab bringen wird.“

Als der unglückliche Jüngling seine Erzählung beendet
hatte, die mich zum innigsten Mitgefühl bewegte, fühlte ich mich zugleich
lebhaft angetrieben, die Liebenden von ihren Gegnern zu befreien, und nach
reiflicher überlegung sagte ich zu ihm: „Wenn Du ihn genehmigst, glaube
ich einen Plan angeben zu können, dessen Ausführung mit Allahs Hilfe Deine und
Deiner Geliebten Leiden enden wird.“ Er versetzte: „Sohn meines
Oheims, teile mir diesen Plan mit!“, und ich fuhr fort: „Sobald es
Nacht und Deine Geliebte hier ist, so wollen wir sie auf mein Kamel setzen, denn
es hat einen sicheren und schnellen Gang. Besteig Du dann Dein Ross, und ich
will Dich auf einem Deiner Kamele begleiten. Wir wollen die ganze Nacht hindurch
reisen, und ehe der Morgen durch den Wald dringt, wirst Du sicher und Dein Herz
wird mit Deiner Geliebten glücklich sein. Das Land Gottes ist weit genug, um
uns einen Zufluchtsort zu gewähren, und ich schwöre Dir beim Himmel, Dein
Freund zu sein, solange ich lebe.“ Der Jüngling erwiderte: „Sohn
meines Oheims, ich will mich über Deinen Plan mit meiner Geliebten beraten,
denn sie ist klug und wohlunterrichtet.“

Als die Nacht hereingebrochen und die Stunde gekommen war,
zu welcher die junge Frau zu kommen pflegte, erwartete mein gütiger Wirt mit
Ungeduld ihre Ankunft, aber vergebnes, denn sie kam nicht. Er stand auf, stellte
sich in die öffnung seines Zeltes, spähte umher, atmete die Luft ein, kehrte
dann in das Zelt zurück, versank in Nachdenken, brach in Tränen aus und rief:
„Ach mein Vetter! Die Tochter meines Oheims kommt nicht, es muss ihr ein
Unfall begegnet sein. Weile hier, während ich sie aufsuche.“ Hierauf nahm
er seinen Säbel und seine Lanze und eilte von dannen.

Nach ungefähr einer Stunde hörte ich seinen Fußtritt
und sah ihn kommen, etwas Schweres in seinen Armen tragend, während er mir in
einem höchst kläglichen Ton entgegen schrie. Ich eilte auf ihn zu, und als ich
ihm nahte, rief er aus: „Ach, ach! Die geliebte Tochter meines Oheims ist
nicht mehr, und ich trage hier ihre Reste. Sie eilte wie gewöhnlich meinem Zelt
zu, als ihr plötzlich ein Löwe in den Weg sprang und sie in Stücke zerriss.
Diese blutigen Glieder sind alles, was von ihr übrig ist.“ Er legte sie
nieder, weinte bitterlich, sagte zu mir: „Weile, bis ich wiederkehre!“
und entfernte sich pfeilschnell. In etwa einer Stunde kehrte er zurück, in
seiner Hand das Haupt des Löwen, das er zur Erde warf, und verlangte Wasser,
welches ich ihm holte. Er wusch hierauf seine Hände, reinigte den Rachen des
Löwen, den er entzückt küsste, und weinte einige Augenblicke lang bitterlich.
Dann rief er aus: „O Sohn meines Oheims, ich beschwöre Dich bei Allah und
bei den Banden unserer Verwandtschaft, erfülle meinen letzten Willen; denn ich
will noch in dieser Stunde meiner Geliebten folgen: Sei Du unser Leidtragender
und begrab ihre Gebeine in demselben Grab mit den meinigen.“ Als er dies
gesagt hatte, ging er in die Abteilung des Zeltes, in welcher er schlief,
verweilte dort eine Stunde, um seine Andacht zu verrichten, kam dann heraus,
schlug an seine Brust, seufzte tief, sagte endlich, seinen letzten Seufzer
aushauchend: „Ich komme, ich komme, meine Geliebte, ich komme!“, und
seine reine Seele nahm ihren Flug zu den Wohnungen des Paradieses.

Ich vermag den Schmerz, den ich empfand, nicht
auszudrücken, und war fast unfähig, mein Versprechen zu erfüllen. Endlich
stand ich aber auf, ermannte mich und legte die Reste dieser treuen Liebenden in
dasselbe Grab, bei welchem ich drei Tage lang betete und wehklage, worauf ich
heimkehrte: Aber ich unterließ nicht, alljährlich ihr Grab zu besuchen, es mit
meinen Tränen zu benetzen und zu Allah um Barmherzigkeit für ihre Seelen und
meine eignen Irrtümer zu flehen.“