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604. Nacht

Geschichte
eines Sultans von Yemen und seiner drei Söhne

"Man erzählt, dass einst in dem Königreich Yemen
ein Sultan lebte, der drei Söhne hatte, von denen zwei von derselben Mutter
geboren waren, der dritte aber von einer anderen Frau, deren der Sultan
überdrüssig geworden war, und der er, zur Magd herabgesetzt, erlaubt hatte,
mit ihrem Sohn unbeachtet unter der Dienerschaft des Harems zu leben. Die beiden
älteren Söhne baten ihren Vater eines Tages um die Erlaubnis, jagen zu
dürfen, worauf er jedem ein prächtig gezäumtes Pferd von echter Rasse
schenkte und ihnen mehrere Sklaven zur Begleitung gab.

Als sie fort waren, begab sich der arme jüngste Bruder zu
seiner unglücklichen Mutter und äußerte ihr seine Wünsche, gleich den
ältesten die Vergnügungen seines Alters genießen zu dürfen. "Mein
Sohn," versetzte sie, "es steht nicht in meiner Macht, Dir ein Pferd,
und was Du sonst noch bedarfst und wünschest, zu verschaffen." Als er nun
bitterlich weinte, gab sie ihm etwas von ihrem Silberschmuck, das er verkaufte
und von dem Geld eine verschlagene Stute kaufte. Als er sie bestiegen und sich
mit etwas Brot versehen hatte, folgte er der Spur seiner Brüder zwei Tage lang,
verlor sie aber am dritten. Als er noch zwei Tage umhergeirrt war, erblickte er
auf der Ebene eine Schnur Perlen und Smaragden, die einen großen Glanz
verbreitete. Nachdem er sie aufgehoben hatte, wand er sie um seinen Turban und
ritt voll Freuden über seinen Fund wieder nach Hause. Als er jedoch in die
Nähe der Stadt kam, begegneten ihm seine Brüder, warfen ihn vom Pferd,
schlugen ihn und rissen ihm die Schnur vom Turban. Er übertraf sie beide an
Stärke und Tapferkeit, aber er fürchtete des Sultans Missvergnügen und für
die Sicherheit seiner Mutter, wenn er seine Beleidiger bestrafte. Er ertrug
daher mit Geduld die Beschimpfung und den Verlust und entfernte sich.

Als die zwei feigen Prinzen im Palast angekommen waren,
überreichten sie dem Sultan die Schnur, der, nachdem er sie bewundert hatte,
sagte: "Ich werde nicht eher zufriedne sein, bis ich den Vogel besitze, dem
diese Schnur notwendig gehört haben muss," worauf die Brüder erwiderten:
"Wir wollen uns aufmachen, um ihn zu suchen und ihn unserm erhabenen Vater
und Sultan zu bringen."

Nach den nötigen Vorbereitungen reisten die beiden
älteren Brüder ab, und der jüngste folgte ihnen auf seiner lahmen Stute. Nach
einer Reise von drei Tagen kam er in eine große Wüste, die er mit großer
Anstrengung durchstreifte, bis er fast erschöpft in eine Stadt gelangte, welche
er von Weh- und Klagegeschrei widerhallen hörte. Endlich begegnete er einem
ehrwürdigen Greis, den er ehrfurchtsvoll grüßte und ihn um die Ursache dieser
allgemeinen Trauer befragte. "Mein Sohn," versetzte der Greis,
"heute vor dreiundvierzig Jahren erschien ein schreckliches Ungeheuer vor
unserer Stadt, verlangte, dass man ihm jährlich eine schöne Jungfrau
ausliefern sollte, und bedrohte uns im Weigerungsfall mit Vernichtung. Unfähig,
uns zu verteidigen, haben wir immer sein Begehren erfüllt und das Opfer durch
das Los bestimmen lassen. Solches hat aber in diesem Jahr die schöne Tochter
unseres Sultans betroffen. Heute ist nun der Tag, an welchem das Ungeheuer
gewöhnlich erscheint, und wir sind voll Trauer und Klagen über ihr
unglückliches Geschick."

Als der junge Prinz das Obige gehört hatte, begab er
sich, auf sein Verlangen von dem Greis begleitet, an den Ort, wo das Ungeheuer
sich aufhielt, entschlossen, es zu bekämpfen oder zu sterben. Kaum war er dort,
als auch die Prinzessin sich nahte, prächtig gekleidet, aber mit gesenktem
Haupt und in Tränen schwimmend. Er begrüßte sie ehrfurchtsvoll, und sie
erwiderte seinen Gruß, indem sie sagte: "Verlass diesen Ort, junger Mann,
denn es wird sogleich ein Ungeheuer erscheinen, dem mein unglückliches Geschick
mich bestimmt hat. Wenn es Dich entdeckt, so wird es Dich in Stücke
zerreißen." – "Prinzessin," erwiderte er, "ich kenne das
Unglück, welches Dir droht, und bin entschlossen, das Lösegeld für Dich zu
bezahlen."