Project Description

596. Nacht

Dem Sultan gefiel die Geschichte. Er schickte den Kadi
nach Hause und behielt den Fischer bei sich. Dieser war noch nicht lange in
seinen Diensten, als er eines Tages bei dem Haus eines angesehenen und reichen
Kaufmanns vorbeiging, dessen Tochter eben aus dem Fenster schaute. Der
närrische Kauz wurde ganz vernarrt in ihre Schönheit und ging wochenlang Tag
für Tag bei dem Haus vorbei in der Hoffnung, sie wieder am Fenster zu sehen,
aber vergebens. Endlich wirkte seine Leidenschaft so heftig auf ihn, dass er
krank wurde, sich zu Bett legte und zu rasen begann, wobei er ausrief:
„Welche reizenden Augen, welche schöne Haut, welche anmutige Gestalt
besitzt meine Geliebte!“ Eine alte Frau, die ihm aufwartete, fühlte, als
sie diese Ausrufungen hörte, Mitleid mit ihm und verlangte von ihm, dass er ihr
die Person nennen sollte, die ihn so begeisterte.

„Meine liebe Mutter,“ sagte er, „ich danke
Dir für Deine Güte, wenn Du mir jedoch nicht helfen kannst, so muss ich
sterben.“ Er erzählte ihr hierauf, was er gesehen hatte, und beschrieb ihr
das Haus des Kaufmanns. Sie sagte: „Mein Sohn, beruhige Dich, denn niemand
kann so bereitwillig sein, Dir in diesem Fall Hilfe zu leisten als ich. Eine
kleine Geduld, und ich kehre schnell mit einer Nachricht von Deiner Geliebten
zurück.“ Sie ging nach Hause und kleidete sich, wie sich die Frommen zu
kleiden pflegen, in ein grobes wollenes Gewand, nahm in die eine Hand einen
Rosenkranz, in die andere einen Wanderstab und ging so vor das Haus des
Kaufmanns, woselbst sie in frommen Ton ausrief: „Gott ist Gott, es ist kein
andrer Gott als Gott. Sein heiliger Name sei gelobt, und Gott sei mit
Euch!“

Als die Tochter des Kaufmanns diese frommen Ausrufungen
hörte, kam sie an die Türe, grüßte die alte Frau mit vieler Ehrfurcht und
sagte: „Liebe Mutter, bete für mich!“, worauf jene erwiderte:
„Allah schütze Dich, mein geliebtes Kind, vor allem Ungemach!“ Das
Mädchen nahm sie sodann ins Haus, wies ihr einen Ehrenplatz an und setzte sich
mit ihrer Mutter zu ihr. Sie sprachen bis Mittag über religiöse Gegenstände,
wo sodann die alte Frau Wasser verlangte, ihre Abwaschungen verrichtete und
Gebete von ungewöhnlicher Länge hersagte, worauf Mutter und Tochter
gegenseitig die Bemerkung machten, die Matrone müsste eine sehr fromme Frau
sein. Als die Gebete zu Ende waren, setzten sie ihr ein Imbiss vor, von welchem
sie jedoch nichts genoss, weil sie, wie sie sagte, einen Fasttag hätte. Dies
vergrößerte ihre Achtung und die Bewunderung ihrer Heiligkeit, so dass sie in
sie drangen, doch bis Sonnenuntergang zu bleiben und dann ihr Fasten mit ihnen
zu brechen, worein sie willigte. Als nun die Sonne untergegangen war, betete sie
aufs neue und erteilte dann manche fromme Ermahnungen. Kurz, Mutter und Tochter
waren so zufrieden mit ihr, dass sie sie baten, die ganze Nacht zu bleiben. Am
Morgen stand sie zeitig auf, verrichtete ihre Abwaschungen, betete eine Zeitlang
und schloss mit einem Segen, den sie in fremder unverständlicher Sprache über
ihre Wirtinnen aussprach. Als sie aufstand, griffen sie ihr ehrfurchtsvoll unter
die Arme und baten sie, noch länger zu bleiben; aber sei verweigerte es, nahm
Abschied und ging, versprach jedoch, mit Allahs Beistand wiederzukommen.