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591. Nacht

Der Kadi dachte über seine lächerliche Lage nach und
beschloss, Tripolis zu verlassen, um dem Gespött der Gottlosen zu entgehen.
Nachdem er also wieder zu Kräften gekommen war, reiste er eines Morgens,
nachdem er Abschied von seiner Frau genommen und ihr sein haus und seine Sachen
übergeben hatte, vor Tagesanbruch aus der Stadt, eifrig betend, dass niemand
ihn bemerken möchte. Er reiste sieben Tage lang ununterbrochen, bis er Damaskus
erreichte, wo man ihn nicht kannte; aber selbst hier hatte er die Kränkung, zu
hören, dass die Geschichte seiner Niederkunft der allgemeine Gegenstand der
Unterhaltung war. Er lebte in der größten Zurückgezogenheit mit gewohnter
Sparsamkeit, bis er das Geld, welches er mitgebracht, alles ausgegeben hatte,
worauf er nun genötigt war, seine Kleider zu verkaufen und sich endlich sogar
als Handlanger bei einem Maurer zu vermieten.

Die Frau des Kadis öffnete nach seiner Abreise seine
Schätze, die sie von unermesslichem Wert fand, und verwandte sie in gutem
Leben, indem sie die Hungrigen speiste und die Nackenden kleidete. Auch schickte
sie den geschiedenen Frauen ihres Mannes artige Sümmchen.

Die Nachricht von des Kadis wunderbarer Entbindung
verbreitete sich übrigens durch das ganze Reich des Islams, erreichte endlich
Bagdad und kam zu den Ohren des Kalifen Harun Arreschyd. Als er es hörte, rief
er aus: „Beim Allah, das ist eine wunderbare Erscheinung; aber es muss die
List des Weibes sein, die sich für irgend eine von seinem Geiz oder seiner
Grausamkeit erlittene Beleidigung gerächt hat. Ich will nach ihr senden und die
Sache aus ihrem eigenen Mund wissen.“

Um ebendiese Zeit beschloss der zu einem Gerippe
ausgehungerte Kadi heimzukehren in der Hoffnung, dass durch die
dazwischen liegenden Jahre sein unglückliches Abenteuer in Vergessenheit
gekommen wäre. Er verließ Damaskus und gelangte in seine Vaterstadt; aber als
er eben hineintrat, rief ein spielender Knabe seinen Spielgenossen zu:
„Erinnert ihr Euch des Jahres, in welchem unser Kadi einen Sohn
gebar?“ Als er dies hörte, kehrte er augenblicklich um, tief in der Seele
gekränkt, und begab sich wieder nach Damaskus, woselbst er sich den Anzug eines
wandernden Derwisches verschaffte und sich in diesem bis Bagdad durchbettelte.
Hier vereinigte er sich mit anderen Mönchen, welche, da sie fanden, dass er
nicht gemeine Talente besäße, ihm rieten, den Kalifen zu besuchen, der gar
nicht unterlassen würde, seine Geschicklichkeiten zu bemerken und sie durch
Zeichen seiner Güte zu belohnen.