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587. Nacht

Der Sultan war über das wieder Finden seines Sohnes vor
Freuden außer sich. Da er jedoch voraussetzte, die Derwische hätten ihn
stehlen wollen, so befahl er, sie auf der Stelle hinzurichten. Die
Henkersknechte ergriffen sie, banden ihnen die Hände auf den Rücken und waren
im Begriff, sie zu töten, als das Kind mit lautem Geschrei herbeilief, und
indem es sich an die Knie des älteren Hinzurichtenden klammerte, konnte es
nicht von ihm losgemacht werden. Der Sultan war darüber höchlich erstaunt,
befahl, die Hinrichtung für jetzt aufzuschieben, ging hin und unterrichtete die
Mutter des Kindes von seinem wunderbaren Betragen.

Als die Sultanin das Vorgefallene hörte, war sie nicht
weniger verwundert als ihr Gemahl und wurde sehr neugierig, von dem Derwisch
selbst zu erfahren, weshalb er ihren Sohn verlockt und ihr abspenstig gemacht
hätte. Sie fand es außerordentlich seltsam, dass der Knabe so viel Liebe und
Zutrauen zu einem Fremden Derwisch haben sollte. Sie bat ihren Gemahl, ihn in
sein Kabinett holen und sich von ihm sein Abenteuer erzählen zu lassen, welcher
Erzählung sie hinter einem Vorhang zuhorchen wollte.

Der Sultan schickte nach dem vorgeblichen Derwisch, befahl
allen seinen Dienern, sich zu entfernen, zog sich mit ihm in sein Kabinett
zurück und ließ ihn sich niedersetzen, worauf er zu ihm sagte: "Gottloser
Derwisch, was kann Dich bewogen haben, meinen Sohn an Dich zu locken und mein
Königreich zu besuchen?" Er erwiderte: "Der Himmel ist mein Zeuge, o
Sultan, dass ich ihn nicht an mich gelockt habe. Der Knabe folgte mir in meine
Wohnung, wo ich ihn aufforderte, zu Dir zurückzukehren; aber er wollte durchaus
nicht, und ich blieb in beständiger Furcht, bis geschah, was des Höchsten
Wille war." Der Sultan fühlte sich nun besänftigt, sprach freundlich mit
dem Derwisch und bat ihn, ihm seine Abenteuer zu erzählen, worauf der Derwisch
erwiderte: "Meine Geschichte ist eine höchst wunderbare! Ich hatte einen
Freund, den ich, als ich eine Wallfahrt nach Mekka unternahm, als meinen
Statthalter und den Beschützer meiner Familie zurückließ. Aber ich war kaum
zehn Tage vom Hause entfernt, so versuchte er, der zufällig meine Gemahlin
gesehen hatte, sie zu verführen, schickte eine alte Frau mit einem reichen
Geschenk zu ihr und ließ ihr seine ehebrecherische Liebe erklären. Meine
Gattin geriet in Wut und tötete die Botin. Er sandte eine zweite und dritte,
denen es nicht besser erging."

Kaum hatte der Derwisch die letzten Worte gesprochen, als
die Sultanin hervorstürzte und ihm um den Hals fiel, worüber der Sultan, ihr
Gemahl, in Wut geriet, Hand an sein Schwert legte und ausrief: "Was
bedeutet dieses schamlose Betragen?" Die Sultanin, die vor Entzücken zu
gleicher Zeit lachte und weinte, sagte ihrem Gemahl nun, der Derwisch wäre ihr
Vater, worauf der Sultan ihm zu Füßen fiel und ihn willkommen hieß. Er befahl
hierauf, den anderen Derwisch (den Wesir) freizulassen, seinem Schweigervater
königliche Kleider zu bringen, im Palast eine Reihe von Zimmern für ihn zu
bereiten und ihm eine seiner Würde angemessene Dienerschaft zu geben.

Als der alte Sultan einige Zeit bei seiner jüngsten, so
glücklich wieder gefundenen Tochter zugebracht hatte, drängte es ihn, die
andern beiden aufzusuchen, und er gab seinen Vorsatz abzureisen zu erkennen;
aber sein Schweigersohn erklärte, dass er ihn auf dieser Reise mit einem Teil
seiner Edlen und mit einem Heer begleiten wollte, weil ihm, wenn er unbegleitet
reiste, leicht etwas Unangenehmes zustoßen könnte. Man bereitete sich zum
Abmarsch, die beiden Sultane lagerten sich vor der Stadt und begannen in wenigen
Tagen ihre Reise, welche ganz ihren Wünschen entsprechend ausfiel. Als der alte
Monarch seine Kinder wieder gefunden hatte, zog er sich in sein eigenes
Königreich zurück, wo er glücklich herrschte, bis der Engel des Todes ihn ins
Paradies rief.