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584. Nacht

Nach seiner Rückkehr in seinen Palast schickte der Sultan
nach der alten Frau und gab ihr, als sie gekommen war, ein Bündel mit einem
reichen Anzug und wertvollen Juwelen, wozu er die Bitte fügte, sie möchte
beides ihrer Tochter geben und sie bewegen, dass sie sich damit schmückte. Die
Alte versprach zu gehorchen und sagte auf dem Heimweg zu sich selber: "Wenn
meine Pflegetochter klug ist, so wird sie das Begehren des Sultans erfüllen und
den Schmuck und Anzug anlegen. Tut sie es aber nicht, so jage ich sie aus meinem
Haus." Heimgekommen, breitete sie die Geschenke vor der Prinzessin aus.
Diese weigerte sich anfangs, sie anzunehmen, bis sie es endlich nach vielem
Bitten ihrer Beschützerin, die sie doch nicht kränken wollte, tat, worüber
die Alte sich innigst freute.

Der Sultan, der in einen weiblichen Anzug geschlüpft war
und sich mit einem dichten Schleier bedeckt hatte, folgte der Alten bis zu ihrem
Haus und horchte an der Tür, um zu erfahren, ob die Tochter sein Geschenk
annähme. Als er nun hörte, dass sie den Anzug angelegt hätte, war er vor
Entzücken außer sich und schickte, in den Palast zurückgekehrt, nochmals nach
der alten Frau, welcher er seinen Wunsch, sich mit ihrer Tochter zu verheiraten,
zu erkennen gab. Als die Prinzessin dies Anerbieten erfuhr, willigte sie ein,
und der Sultan, von einem glänzenden Reitergefolge begleitet, führte sie noch
denselben Abend in seinen Palast, wo der Kadi den Ehevertrag schloss. Ein
allgemeines Fest wurde sieben Tage hintereinander für die Einwohner der Stadt
veranstaltet, und der Sultan und die Prinzessin waren auf dem Gipfel des
Glücks. Im Laufe von fünf Jahren beglückte sie der Allmächtige mit einem
Sohn und zwei Töchtern. –

Die älteste der Prinzessinnen war, nachdem sie sich an
ein großes Stück Holz geklammert hatte, nach vieler Angst an eine Küste
gelangt, auf welcher sie einen männlichen Anzug fand; und da sie diesen für
eine passende Verkleidung zur Beschützung ihrer Ehre heilt, so zog sie ihn an
und ging in eine nahe an der Küste gelegene Stadt. Sie begegnete einem
Taschenmacher, der sie als fremd erkannte und sie, da er sie für einen Mann
hielt, fragte, ob sie zu ihm ziehen wollte, weil er einen Gehilfen brauchte.
Erfreut, einen Zufluchtsort zu finden, nahm sie sein Erbieten und den täglichen
Lohn, welchen er ihr zusicherte, an. Er führte sie nach Hause und behandelte
sie mit vieler Güte. Am nächsten Tag trat sie ihr Geschäft an und machte so
gute Arbeit, dass in kurzer Zeit ihres Meisters Laden besuchter war als irgend
ein andrer.

Zufällig war dieser Laden nicht weit vom Palast des
Sultans gelegen. Als eines Morgens dessen Tochter durch ein Gitter ihres Balkons
den jungen Mann mit bloßen Armen sah, fand sie diese so weiß und glänzend wie
Silber und sein Antlitz so glanzreich wie die unumwölkte Sonne.

Sie konnte nicht aufhören, den jungen Mann zu betrachten,
solange er bei der Arbeit blieb, und als sie nachher in ihrem Zimmer war,
fühlte sie sich von seinen Reizen so bezaubert, dass sie ganz unruhig und
endlich unwohl wurde. Ihre Amme, die ihr aufwartete, fühlte ihr an den Puls und
legte ihr mehrere Fragen vor, konnte jedoch keine Anzeichen leiblicher Krankheit
an ihr entdecken. Sie sagte: "Meine liebe Tochter, ich bin überzeugt, dass
Dich nichts krank gemacht hat als das Verlangen nach irgend einem Jüngling, in
den Du Dich verliebt hast." Die Prinzessin rief aus: "Liebe Mutter, da
Du mein Geheimnis entdeckt hast, so wirst Du es hoffentlich nicht nur heilig
bewahren, sondern mir auch den Mann, den ich liebe, herbringen." Die Amme
erwiderte: "Niemand kann ein Geheimnis heiliger bewahren als ich, so dass
Du mir es sicher anvertrauen kannst." Die Prinzessin sagte hierauf:
"Mutter, mein Herz ist von dem jungen Mann bezaubert, der in dem Laden
meinen Fenstern gegenüber arbeitet, und wenn ich nicht mit ihm zusammenkommen
kann, so sterb‘ ich vor Gram."