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578. Nacht

Der Sultan flüsterte dem Wesir zu: "Das Mädchen
setzt mich durch ihre Antworten in Erstaunen: Denke darauf, ihr irgend eine
Frage vorzulegen, welche sie in Verwirrung setzt." – "Herr,"
entgegnete der Wesir, "wir sind hier als Fremde, Derwische und Gäste, wie
können wir sie durch unpassende Fragen verwirren?" da aber der Sultan auf
seinem Willen bestand, so sagte der Wesir zu den Frauen: "Gehorsam gegen
den Sultan ist Pflicht für alle Untertanen." – "Es ist wahr, dass er
unser Oberherr ist," sagte die jüngste der Schwestern, "aber wie kann
er wissen, ob wir vor Hunger sterben oder im überfluss leben?" –
"Wenn er nun aber," versetzte der Wesir, "Euch vor sich rufen
ließe und über Euren Ungehorsam befragte, was könntet Ihr zu Eurer
Entschuldigung vorbringen?" – "Ich würde," fuhr sie fort,
"dem Sultan sagen: "Euer Majestät hat gegen das göttliche Gesetz
gehandelt."

Der Wesir wandte sich hierauf zu dem Sultan und flüsterte
ihm zu: "Ich dächte, wir stritten mit diesem Mädchen nicht ferner über
dergleichen Gewissenssachen und fragten sie lieber, ob sie in den schönen
Künsten unterrichtet ist." Der Sultan legte ihr diese Frage vor, und sie
erwiderte: "Ich habe einige übungen in allen," worauf er sie
ersuchte, zu spielen und zu singen. Sie entfernte sich, kehrte aber sogleich mit
einer Laute zurück, setzte sich, stimmte das Instrument und spielte eine
klagende Weise, wozu sie folgende Verse sang:

"Es ist preisenswert, wenn Untertanen ihrem Oberherrn
gehorchen; aber dessen Reich wird lange während, der durch Güte ihre Liebe
erwirbt.
Sei freigebig und freisinnig, und Deine Untertanen werden für Dich beten, denn
nur der freie Mensch kann Dankbarkeit fühlen.
Zu dem, der Gaben spendet, nimmt man gern seine Zuflucht, denn die Güte ist
bezaubernd.
Trübe nicht durch Versagung das Gesicht des Mannes von Geist, denn ein
freisinniges Gemüt wird durch Kargheit und hochmütiges Betragen beleidigt.
Nicht ein Zehntel des Menschengeschlechts weiß, was recht ist, denn die
menschliche Natur ist unwissend, aufrührerisch und undankbar."

Als der Sultan diese Verse hörte, blieb er einige Zeit in
Gedanken versunken und flüsterte hierauf dem Wesir zu: "Diese Strophen
waren gewiss auf uns gemünzt, und ich bin nach ihrem ganzen Benehmen gegen uns
überzeugt, dass sie sehr gut wissen, dass ich ihr Sultan bin, und dass Du mein
Wesir bist." Er wandte sich herauf zu dem jungen Mädchen und sagte:
"Dein Spiel, Deine Stimme, Dein Vortrag und der Inhalt der Strophen haben
mich über allen Ausdruck ergötzt." Hierauf sang sie noch folgende
Strophe:

"Die Menschen streben nach Ehre und Reichtum in einem
Zeitalter von Mühseligkeit und Unterdrückung, während – ach! Von ihrer Geburt
an sie das Grab erwartet und ihr Geschick von Ewigkeit her bestimmt ist."

Der Sultan war durch den Inhalt dieser letzten Verse noch
mehr als vorher überzeugt, dass das Mädchen seinen Stand erraten hätte. Sie
hörte nun nicht auf, zu singen und zu spielen, bis der Tag anbrach, worauf sie
sich entfernte und ein Frühstück auftrug, welches der Sultan und der Wesir mit
verzehren halfen. Sodann sagte sie: "Ich hoffe, ihr werdet in der nächsten
Nacht nach der ersten Nachtwache wieder zu uns kommen und unsere Gäste
sein." Der Sultan versprach es und verließ die Schwestern, ihre
Schönheit, ihr anmutiges Betragen und ihre Talente bewundernd und zu dem Wesir
sagend: "Meine Seele ist durch die Reize dieser anmutigen Frauen höchlich
ergötzt."