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568. Nacht

Geschichte des zurückgezogenen Weisen und
seines Schülers

Es lebte einst ein gelehrter und frommer Weiser, der, um
sich seinen Studien und Untersuchungen ungestört zu widmen, sich von der Welt
in eine Zelle einer der Hauptmoscheen der Stadt zurückgezogen hatte und sie nur
auf die dringendsten Veranlassungen verließ.

Er hatte dieses zurückgezogene Leben einige Jahre
hindurch geführt, als eines Tages ein Knabe in seine Zelle trat und als sein
Schüler und Diener aufgenommen zu werden wünschte. Der Weise, dem sein Wesen
gefiel, willigte ein, fragte, wer seine Eltern wären, und woher er käme; aber
der Knabe wusste ihm nichts darauf zu antworten und sagte: „Frage nicht,
wer ich bin, denn ich bin eine Waise und weiß nicht, ob ich dem Himmel oder der
Erde angehöre.“

Der Greis drang nun nicht weiter in ihn, und der Knabe
diente ihm mit der unfehlbarsten Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit zwölf Jahre
lang, während welcher Zeit er in allen Zweigen der Wissenschaft Unterricht
erhielt und ein höchst ausgebildeter junger Mann wurde.

Nach Ablauf der zwölf Jahre hörte der junge Mann eines
Tages von einigen anderen jungen Männern die Schönheit der Tochter des Sultans
preisen und sie sagen, dass ihre Schönheit die aller Prinzessinnen ihres
Zeitalters überträfe. Diese Reden reizten seine Neugier, ein so
liebenswürdiges Geschöpf zu sehen.

Er begab sich zu seinem Meister und sagte: „Herr, ich
höre, dass der Sultan eine sehr schöne Tochter hat. Meine Seele sehnt sich
heftig nach einer Gelegenheit, sie zu sehen, sei es auch nur auf einen
Augenblick.“

Der Weise rief aus: „Was haben Leute unserer Art mit
Weibern überhaupt, und besonders mit Töchtern der Herrscher zu schaffen? Wir
sind ein zurückgezogener Orden und sollen uns alles Umganges mit den Großen
dieser Welt enthaltne.“ Der greis fuhr fort, seinen Schüler vor den
Eitelkeiten der Welt zu warnen und ihn von seinem Vorsatz abzureden; aber je
mehr er ihn ermahnte und ihm Vorstellungen machte, je mehr bestand der junge
Mann auf seinem Vorhaben und wurde so schwermütig, dass seine Gesundheit
dadurch in Gefahr geriet.

Den Weisen betrübte diese Schwermut, und er sagte endlich
zu dem jungen Mann: „Wird ein Blick der Prinzessin Deine Wünsche
befriedigen?“ – „Er wird es,“ erwiderte der Schüler.

Der Weise bestrich nun eins seiner Augen mit einer Art von
Salbe, und sogleich verschwand die ein Hälfte seines Leibes, und nur die andere
blieb sichtbar. Der Weise befahl ihm nun, sich in die Mitte der Stadt zu
verfügen.