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566. Nacht

Zehn Tage waren vorüber, als ich wie gewöhnlich in
meinem Laden saß und eine prächtig gekleidete und von Wohlgerüchen duftende
Dame eintrat. Sie glich an Glanz dem Vollmond, so dass mich, als ich sie
anschaute, meine Sinne verließen und ich für nichts Augen hatte als für sie.
Sie wandte sich zu mir und sagte: „Junger Mann, habt Ihr in Eurem Laden
irgend weiblichen Putz?“, worauf ich erwiderte: „Von allen Gattungen,
schöne Frau, die Ihr nur verlangen könnt.“ Sie verlangte nun Bänder, um
die Knöchel zu binden. Ich zeigte ihr dergleichen, und sie bat mich, sie ihr
anzuprobieren, was ich denn auch tat. Sie verlangte nun ein Halsband, lüftete
ihren Schleier, und ich musste es ihr umbinden. Sie suchte sich dann ein Paar
Armbänder aus, die ich ihr gleichfalls anlegen musste, worauf sie sich nun nach
dem Betrag des Ganzen erkundigte. Ich aber rief aus: „Schöne Frau, nimm es
als ein Geschenk an und sage mir, wessen Tochter Du bist.“ Sie antwortete
mir: „Ich bin die Tochter des Oberrichters,“ worauf ich erwiderte,
dass es mein Wunsch wäre, sie von ihrem Vater zur Gattin zu verlangen. Sie gab
dazu ihre Einwilligung, bemerkte aber: „Wenn Du mich von meinem Vater
verlangen wirst, so wird er sagen, er habe nur eine Tochter, und die sei ein sehr
missgestalteter Krüppel. Antworte Du aber nur, Du seist dennoch bereit, sie zur
Frau zu nehmen; und wenn er sich weigert, so bestehst Du auf der Heirat.“
Ich fragte sie, wann ich meinen Antrag machen sollte. Sie erwiderte: „Die
schicklichste Zeit, meinem Vater zu besuchen, ist bei dem Fest, welches in drei
Tagen gefeiert wird, und wo Du alle seine Freunde und Verwandte bei ihm wirst
versammelt finden. Unsere Hochzeit wird dann das Fest noch verschönern.“

Dem Wunsch der Schönen gemäß begab ich mich am dritten
Tag in das Haus des Oberrichters und fand ihn im großen Staat sitzend und die
festlichen Glückwünsche der vornehmsten Einwohner aus der Stadt empfangend.
Wir begrüßten ihn ehrfurchtsvoll, er erwiderte freundlich unsern Gruß und
ließ sich vertraulich in ein Gespräch mit uns ein. Er ließ einen Imbiss
auftragen, den wir mit ihm verzehrten, und sodann tranken wir Kaffee. Ich stand
nun auf und sagte: „Herr, ich hege den innigen Wunsch, die keusche
Jungfrau, Eure Tochter, die mehr Wert hat als das kostbarste Juwel, zu
heiraten.“

Als der Oberrichter meinen Antrag vernommen, schenkte er
eine Weile nachsinnend das Haupt, worauf er sagte: „Sohn, meine Tochter ist
ein unglücklicher, höchst missgestalteter Krüppel.“ Ich erwiderte:
„Sie zur Frau zu haben, ist alles, was ich wünsche.“ Der Richter
sagte hierauf: „Wenn Du solch‘ eine Frau haben willst, so kannst du sie nur
unter der Bedingung bekommen, dass sie mein Haus nicht verlasse, Du hier die
Heirat vollziehst und bei mir wohnen bleibst.“ Ich erwiderte: „Dein
Wille ist mir Gesetz!“, indem ich noch immer glaubte, es wäre von dem
schönen Mädchen die Rede, die meinen Laden besucht und deren Reiz mich so
entzückt hatte.

Kurz, die Hochzeit wurde gefeiert, und ich sagte zu mir
selbst: „Himmel! Ist es möglich, dass ich der Gatte dieses schönen
Mädchens geworden bin und alle ihre Reize genießen soll!“

Als es Nacht geworden, führten mich die Diener des
Oberrichters zu meiner Braut. Eilig rannte ich, um ihre Schönheit anzustaunen,
aber denke Dir meinen Schrecken, als ich eine elende Zwergin sah, so
missgestaltet, wie ihr Vater sie beschrieben hatte. Ich war außer mir über
ihren Anblick und solch einer Täuschung und schämte mich meiner törichten
Leichtgläubigkeit. Aber ich durfte mich nicht beklagen, da ich sie freiwillig
von dem Oberrichter zur Frau angenommen hatte. Ich saß still in dem einen
Winkel des Zimmers und sie in dem andern; denn ich konnte mich nicht
überwinden, mich ihr zu nahen, da sie gar zu widrig aussah und meine Seele ihre
Gesellschaft nicht zu ertragen vermochte.