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555. Nacht

Nicht lange nachher gedachte der Sultan auch des dritten
Gauners, der sich für einen Genealogisten des Menschengeschlechts ausgab, und
ließ ihn vor sich fordern. Als er erschien, sagte er zu ihm: „Du kannst
die Abkunft jedes Menschen erraten?“ – „Ja, Herr,“ erwiderte der
Genealogist. Hierauf befahl der Sultan einem Verschnittenen, ihn in den Harem zu
führen, auf dass er die Abkunft seiner Favoritin erriete. Als er nun dort war,
beschaute er die Sultanin auf allen Seiten durch ihren Schleier, bis er
befriedigt war und wieder zum Sultan ging, der ihn befragte, was er an seiner
Favoritin erspäht hätte. „Herr,“ erwiderte der Mann, „sie ist
vollkommen an Zierlichkeit, Schönheit, Anmut, Gestalt, Frische, Bescheidenheit,
Talenten und Kenntnissen, so, dass alles Wünschenswerte sich in ihr vereinigt:
Aber sie hat doch einen Fehler, ohne welchen es unmöglich wäre, dass sie von
irgend einem Weibe übertroffen würde.“ Als der Sultan dies vernommen,
stand er wütend auf, zog seinen Säbel und rannte auf den Genealogisten los, um
ihm den Kopf abzuschlagen.

Als er eben im Begriff war, den Todesstreich zu
vollführen, baten ihn einige der ihn umgebenden Personen, den Mann nicht zu
töten, bevor er nicht von der Falschheit seiner Behauptung überzeugt wäre,
worauf der Sultan ihn fragte, was für einen Fehler er an der Favoritin entdeckt
hätte. „O Sultan,“ erwiderte der Mann, „sie ist, was sie selbst
betrifft, ganz vollkommen: Aber ihre Mutter war eine Seiltänzerin.“

Hierauf sandte der Sultan sogleich nach dem Vater der Dame
und sprach: „Sage mir aufrichtig, wer die Mutter Deiner Tochter war, oder
ich töte Dich.“ – „Mächtiger Fürst,“ versetzte der Vater,
„nur in der Wahrheit ist Sicherheit für den Menschen. Ihre Mutter war eine
Seiltänzerin, die ich sehr jung von einer herumziehenden Gauklerbande zu mir
nahm und erzog. Sie wurde so schön und vollkommen, dass ich sie heiratete, und
sie gebar mir die Tochter, welche Du zu Deiner Favoritin erwählt hast.“

Als der Sultan dies hörte, kühlte sich seine Rache ab,
aber er erstaunte nicht wenig und sagte zu dem Genealogisten: „Erkläre
mir, woraus Du sehen kannst, dass meine Favoritin die Tochter einer
Seiltänzerin war!“

„Herr,“ versetzte der Mann, „diese Art
Menschen haben immer sehr schwarze Augen und sehr buschige Augenbrauen. Sie hat
beides, und daraus erriet ich ihre Abkunft.“ Der Sultan war nun von seiner
Geschicklichkeit überzeugt, entließ ihn gnädig und befahl, auch ihm so viel
Fleisch und Brot als seinen Gefährten zu geben, was denn auch geschah.

Einige Zeit nachher gedachte der Sultan wieder der drei
Gauner und sagte zu sich selbst: „Diese Männer haben die Geschicklichkeit
in alledem beweisen, worin ich sie geprüft habe. Der Steinschneider zeigte sich
vortrefflich in seiner Kunst, ebenso der Pferdegenealogist, und der dritte hat
die seinige an meiner Favoritin erprobt. Ich habe große Lust, meine eigene
Abkunft außer Zweifel zu setzen.“ Er ließ demnach den Genealogisten rufen
und sagte zu ihm: „Glaubst du meine Abkunft dartun zu können?“ –
„Ja, Herr,“ erwiderte der Mann, „aber nur unter der Bedingung,
dass Du meines Lebens schonst, wenn ich Dich unterrichtet haben werde, denn das
Sprichwort sagt: ‚Wenn der Sultan gegenwärtig ist, so hüte Dich vor seiner
Wut, da kein Aufschub stattfindet, wenn er zu schlagen befiehlt.'“ –
„Wohlan,“ sagte der Sultan, „ich verspreche Dir Sicherheit, und
mein Wort ist unverletzlich.“

„O Sultan,“ fuhr der Genealogist fort,
„wenn ich Dich von Deiner Verwandtschaft und Abkunft unterrichte, so lasse
sonst keinen anderen, der mich hören könnte gegenwärtig sein.“ –
„Weshalb,“ versetzte der Sultan. „Herr,“ erwiderte der
Gauner, „Du weißt, dass die Attribute der Gottheit in den Schleier des
Geheimnisses gehüllt werden sollen.“ Der Sultan befahl allen, die ihn
umgaben, sich zu entfernen; und als sie beide allein waren, sagte der
Genealogist zu ihm: „Mächtiger Fürst, Du bist unecht und der Sohn einer
Ehebrecherin.“