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551. Nacht

Geschichte des Sultans Yemen und seiner drei Söhne

„Herr,“ sagte Scheherasade, „im Lande Yemen
(dem glücklichen Arabien) herrschte ein Sultan, welchem drei Fürsten
unterworfen waren. Er hatte vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter. Auch
besaß er unermessliche Schätze und unzählbare Herden an Kamelen, Pferden und
Schafen und wurde von allen gleichzeitigen Herrschern gefürchtet.

Nach einer langen und glücklichen Regierung begann er an
Altersschwäche zu leiden und wurde endlich unfähig, in seinem Audienzsaal zu
erscheinen, weshalb er seine Söhne vor sich kommen ließ und zu ihnen sagte:
„Es ist mein Wunsch, vor meinem Tod alle meine Besitzungen unter Euch zu
teilen, damit ihr zufrieden, in brüderlicher Einigkeit und Liebe und meinem
letzten Willen getreu leben mögt.“ Sie versprachen, ihm Gehorsam zu
leisten.

Der Sultan fuhr hierauf fort: „Mein Wille ist, dass
der älteste an meiner Stelle herrscht, der zweite meine Schätze und der dritte
meine Viehherden besitze. Keiner beeinträchtige den andern in seinem
Besitztum!“

Hierauf ließ er sie eine übereinkunft unterzeichnen,
sein Begehren zu erfüllen, und wurde bald nachher in die Gnade des
Allmächtigen aufgenommen, worauf seine Söhne alles zu seinem Leichenbegängnis
Nötige besorgten. Sie wuschen seine Leiche, sargten sie ein, beteten über ihr
und kehrten nach der Beerdigung in ihre Paläste zurück, wo ihre Wesire, ihre
Staatsbeamten und alle Einwohner der Residenz sowohl von hohem als von niederem
Stand, sowohl arme als reiche, ihnen ihr Beileid über den Verlust ihres Vaters
bezeigten. Die Nachricht von dem Tod des Sultans verbreitete sich alsbald über
alle Provinzen, und es kamen Gesandtschaften aus allen Städten, um ihr Bedauern
zu äußern.

Nach diesen Trauerbezeigungen verlangte der älteste Prinz
an der Stelle des Verstorbenen dessen Willen gemäß zum Sultan eingesetzt zu
werden. Das war aber nicht möglich, da jeder von den Brüdern ehrgeizig nach
der Herrschaft strebte. So erhob sich über die Regierung ein Zwist unter ihnen,
bis endlich der ältere Bruder, der einen Bürgerkrieg vermeiden wollte, zu
seinen Brüdern sagte: „Lasst uns hingehen und uns der Entscheidung eines
der zinspflichtigen Sultane unterwerfen, und derjenige von uns, dem er das
Königreich zuspricht, beherrsche es in Frieden.“ Hierzu gaben sie und ihre
Wesire ihre Einwilligung und reisten unbegleitet nach der Hauptstadt des einen
der untertänigen Sultane.

Als die Fürsten ihre Reise ungefähr zur Hälfte
vollendet hatten, erreichten sie einen grünen, mit Kräutern und Blumen reich
bedeckten Fleck, von einem klaren Bach durchrieselt, welchem zu Gefallen sie
anhielten, um sich zu erfrischen. Sie setzten sich nieder und aßen, als einer
von den Brüdern, der seine Augen auf das Gras warf, sagte: „Ein Kamel hat
vor kurzem diesen Weg gemacht, halb mit Zuckerwerk und halb mit Getreide
beladen.“

„Richtig,“ rief der andere, „und auf einem
Auge war es blind.“

„So ist’s,“ fuhr der dritte fort, „und es
hatte seinen Schweif verloren.“

Kaum hatten sie diese Bemerkungen ausgesprochen, als der
Eigentümer des Kamels (der gehört hatte, was sie sagten, und aus ihrer
Beschreibung des Tieres und seiner Ladung schloss, dass sie es festgehalten
haben müssten) auf sie loskam und ihnen zurief, sie hätten sein Kamel
gestohlen. „Wir haben es weder gestohlen noch berührt,“ erwiderten
die Prinzen. „Beim Allah,“ versetzte jener, „niemand als ihr kann
es angehalten haben; und wenn ihr es nicht ausliefert, so werde ich mich beim
Sultan über Euch beklagen.“ – „Wohlan,“ sagten sie, „lass
uns zum Sultan gehen.“

Als alle vier den Palast erreicht hatten, wurde die
Ankunft der Prinzen gemeldet, und sie wurden zu einer Audienz gelassen, zu
welcher der Eigentümer des Kamels ihnen folgte, indem er ausrief: „Diese
Männer, Herr, haben mir mein Eigentum gestohlen, denn sie haben das Tier und
seine Ladung beschrieben.“

Der Mann erzählte nun, was jeder der Fürsten gesagt
hatte, worauf der Sultan sich erkundigte, ob das wahr wäre. Sie erwiderten:
„Herr, wir haben das Kamel nicht gesehen. Als wir aber, auf dem Rasen
sitzend, einige Erfrischungen zu uns nahmen, bemerkten wir zufällig, dass ein
Teil des Grases abgeweidet war, jedoch nur auf einer Seite, woraus wir
folgerten, das Kamel wäre auf einem Auge blind. Wir sahen hierauf einen Haufen
Kamelmist auf dem Boden, welches uns in der Vermutung übereinstimmen ließ,
dass sein Schweif abgeschnitten sein müsste, weil es die Gewohnheit der Kamele
ist, beim Misten mit ihren Schweifen zu wedeln und so den Kot hin und her zu
streuen. Auf der Stelle, wo das Kamel gelegen hatte, sahen wir auf der einen
Seite eine große Menge von Fliegen, aber keine auf der andern, woraus wir
schlossen, dass einer der Körbe Zuckerwerk, der andere jedoch nur Getreide
enthalten haben müsste.“