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522. Nacht

Am folgenden Tag trat der achte der zehn Wesire vor den
König hin und sprach zu ihm: „Herr, die Weisen des Altertums haben sehr
wahr gesprochen, das Königreich sei ein Baum, dessen Wurzel die Gerechtigkeit bildet.
Wenn diese Wurzel leidet, so sind die Zweige ohne Trieb, die Blüten verwelken,
die Blätter fallen ab, und der Baum erstirbt. Die Gerechtigkeit fordert nun die
Bestrafung Bacht-jars, und wenn die Völker des Reichs nicht bald vernehmen,
dass das von diesem Sklaven begangene Verbrechen bestraft worden ist, so
fürchte ich sehr, dass die Wurzeln Eures Reichs dadurch einen Schaden erleiden,
der vielleicht sehr schwer zu heilen sein möchte.“

Asad-bacht erkannte die Wahrheit dieser Bemerkungen seines
Wesirs. Er ließ den Angeklagten vorführen, befahl dem Scharfrichter, das
bloße Schwert über Bacht-jars Haupt zu schwingen, und sagte zu diesem, seine
letzte Stunde wäre gekommen.

„Zuflucht der Unglücklichen!“, antwortete der
junge Angeklagte, „mögen die geheiligten Befehle Euer Majestät überall
geehrt sein! Aber es sei mir vergönnt, Euch nochmals daran zu erinnern, dass,
obwohl strenge Gerechtigkeit den Königen der Erde ziemt, blinde übereilung ihnen
jedoch bittere Reue bereitet. Ebenso geschah es, dass ein Juwelier, der zu rasch
verfuhr, sich in einen Abgrund von Leiden stürzte.“

„Was widerfuhr diesem Juwelier?“, fragte
Asad-bacht, „wie wurde die übereilung ihm so verderblich?“

Bacht-jar antwortete folgendermaßen:

Geschichte des Juweliers

„Herr, man erzählt, es war einmal ein sehr reicher
und in seiner Kunst sehr geschickter Juwelier, ein großer Kenner von Kleinoden
und Edelsteinen. Er hatte sich mit einer Frau verheiratet, welche von
anständiger Herkunft war und sich durch ihre Klugheit auszeichnete. Seine
Gattin war ihrer Niederkunft nahe, als eine Botschaft des Königs ihn schleunig
nach Hofe forderte. Man hatte viel von seiner Kenntnis in Abschätzung der
Edelsteine gehört und wollte ihn wegen Perlen zu Rat ziehen, mit denen der
König seinen Schatz bereichern wünschte. Da er kein Mittel sah, sich von
dieser Reise loszumachen, so traf er alle Anstalten dazu, und als er im Begriff
stand, abzureisen, nahm er von seiner Frau mit folgenden Worten Abschied:
„Der bestimmte Befehl des Königs zwingt mich, auf einige Zeit zu
verreisen. Nimm unterdessen die Geschäfte unsers Handels und die Verwaltung
unseres Eigentums sorgfältig in acht. Wenn das Kind, welches in meiner
Abwesenheit geboren wird, ein Knabe ist, so nenne ihn Behrus, und ist es ein
Mädchen so überlasse ich es Dir, ihr einen Namen auszuwählen. Lebe wohl,
vergiss mein nicht und schließ mich in Dein Gebet ein!“

Als der Juwelier in der Hauptstadt angekommen war, stellte
er sich mit den gewöhnlichen Feierlichkeiten dem König vor, küsste den Boden
und beteuerte ihm seien Hingebung und Treue. „Ich habe Dich zu mir
entboten,“ sprach der Fürst zu ihm, „um mich durch Deinen Rat in der
Auswahl von Perlen leiten zu lassen, welche Du für die schönsten und meines
Thrones würdigsten erkennst.“ Bei diesen Worten ließ der König das
Kästchen mit den Perlen herbeibringen.

Der Juwelier entledigte sich seines Auftrages mit viel
Geschmack und Auswahl, und der König war damit so zufrieden, dass er ihm
mehrere Belohnungen gab und ihn zum Hofjuwelier ernannte, indem er ihm die
Fassung der Juwelen zu Kronen, zu Gürteln usw. übertrug. Da der Juwelier eine
gute Erziehung genossen hatte und es ihm nicht an Geist und Munterkeit fehlte,
so gelang es ihm, die Gunst des Königs zu gewinnen, indem er ihm allerlei
ergötzliche Geschichten erzählte, und bald war er einer der vertrautesten
Hofleute dieses Fürsten, der ihn mit Gunstbezeigungen überhäufte und ihn
nicht einen Augenblick von seiner Seite ließ.

Unterdessen hatte die Frau des Juweliers bald nach seiner
Abreise zwei schöne Knaben zur Welt gebracht. Sie nannte den einen Behrus, wie
ihr Mann verlangt hatte, und den andern Rusbeh. Sie sandte alsbald einen Boten
nach der Hauptstadt, um ihm diese frohe Neuigkeit zu verkündigen, und schrieb
ihm einen Brief, der also lautete:

„Die göttliche Vorsehung hat mich eben zur Mutter
von zwei so schönen und vollkommenen Knaben gemacht, dass ich keine Ausdrücke
zu finden weiß, sie zu schildern, und dass es unmöglich ist, sich eine
Vorstellung davon zu machen. Komm also, mein teurer Gemahl, mit mir den Himmel
für diese Gabe zu danken, und lass nicht auf Dich warten, denn ich kann Deine
Abwesenheit nicht länger ertragen.“

Bei Empfang dieses Briefes dankte der Juwelier zuerst Gott
für das ihm gewährte Glück. Dann begab er sich zu dem König und bat ihn um
Urlaub, aber der Fürst hatte ihn so lieb gewonnen, dass er ihm nicht erlauben
wollte, wegzureisen. Jedoch versprach er ihm diese Erlaubnis für das nächste
Jahr.