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516. Nacht

In dieser äußersten Not fragte der König von Persien
seinen Wesir um Rat, und dieser antwortete ihm: „Herr, das Blut Eurer
Untertanen fließt in Strömen, und die Ursache scheint nicht erheblich genug,
um einen so unglücklichen Krieg zu verlängern, indem es nur darauf ankommt,
die Hand Eurer Tochter dem König von Abessinien zu bewilligen, um die Ruhe
Eures Reiches herzustellen: Schickt also Gesandte hin, ihm zu verkündigen, dass
Ihr seinem Verlangen nachgebt und um Frieden bittet. Dieser Schritt wird das
gute Vernehmen zwischen beiden Reichen wieder herstellen. Ihr lasst die
Prinzessin mit einem anständigen Gefolge nach Abessinien ziehen, und ihre
Vermählung wird zum Unterpfand eines langen Friedens dienen.“

Wie groß auch die Liebe des Königs von Persien zu seiner
Tochter war, sah er doch wohl ein, dass es unumgänglich notwendig war, dem Rat
seines Wesirs zu folgen. Demgemäß schickte er Gesandte hin, um Frieden zu
bitten; und nachdem er diesen erhalten hatte, genügte er den Bedingungen
desselben und ließ die Prinzessin, seine Tochter, mit einem zahlreichen Gefolge
abreisen.

Der König von Abessinien war auf dem Gipfel der Freude,
als er die nahe Ankunft der Prinzessin von Persien vernahm, und ließ ihr den
prächtigsten Empfang bereiten.

Er kam mit ihr heim und zog im Triumph in seine Hauptstadt
ein. Alle Großen des Reichs kamen, ihm Glück zu wünschen über den Erfolg
seiner Waffen und über seine neue glückliche Vermählung, bei deren
Gelegenheit man überall glänzende Feste und Lustbarkeiten anstellte, welche
genugsam beweisen, welchen Teil das Volk an der Glückseligkeit seines Königs
nahm.

Der König und die Königin von Abessinien verlebten nun
glückliche Tage in Freuden und Vergnügen: Aber ein heimlicher Gram vergiftete
das Glück der Prinzessin, und die Ursache desselben war folgende:

Daheim bei ihrem Vater hatte die Prinzessin eine heimliche
Verbindung mit einem jungen Mann unterhalten und sogar einen schönen Sohn
geboren, dessen Pflege sie getreuen Dienern anvertraut, welche ihm die
glänzendste Erziehung gegeben hatten, so dass er mit seinen natürlichen
Vorzügen die mannigfaltigste Bildung vereinigte. Man hatte es leicht dahin
gebracht, dass er in den Harem aufgenommen wurde, und er hatte sich so sehr die
Gunst des Kaisers von Persien erworben, dass dieser ihn zum Dienst um seine
eigene Person anstellte und gar nicht mehr ohne ihn sein konnte.

Bei ihrer Abreise nach Abessinien war also die Prinzessin
genötigt gewesen, sich von ihrem geliebten Sohn zu trennen, und darüber
empfand sie nun einen so tiefen Gram, dass die Tränen über ihre Wangen flossen
wie ein Frühlingsschauer: Da sie die Pein dieser schmerzlichen Trennung nicht
länger ertragen konnte, so suchte sie alle Mittel hervor, um ihren geliebten
Sohn wieder bei sich zu haben.

Eines Tages, als sie sich mit ihrem Gemahl im Innern des
Harems unterhielt, fing der König von Abessinien an, sein Land zu rühmen, und
erhob es weit über Persien. „Der Kaiser,“ sprach er zu der Königin,
„achtete mein Reich gering: Meine Truppen haben es ihn kennen gelehrt, und
ungeachtet er alle seine Kräfte gegen mich aufgeboten hat, ist sein Widerstand
doch vergeblich gewesen, und hätte er nicht den klugen Entschluss gefasst, sich
meine Wünschen zu fügen und Dich mir zu senden, so hätten wir sein Reich
gänzlich umgestürzt und seien Reichtümer in unsern Mantelsäcken als Beute
heimgebracht.“