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512. Nacht

In dieser grauenvollen Lage empfand die Tochter Kamkars
bald alle Qualen des Hungers und Durstes. Ihre Lippen brannten, ihre Kehle, ihre
Zunge und ihr Gaumen trockneten aus: Aber mitten unter diesen Leiden verließ
das Vertrauen auf Gott sie nicht. Sie hub ihre vor Schwäche erloschenen Augen
gen Himmel, und rief aus: „Großer Gott! Ich unterwerfe mich den
Beschlüssen Deiner Vorsehung. Wenn Einige Wassertropfen mein Leben noch um
einige Augenblicke verlängerten, so würde ich sie auch zur Verherrlichung
Deines heiligen Namens anwenden. Du kennst meine Unschuld und die
Ungerechtigkeit der Menschen, die mich verurteilt haben, ich beschwöre Dich,
vergönne mir noch vor meinem Tod, wenn mein Leben so schleunig enden soll, dass
mein Mund wenigstens meinen nichtswürdigen Ankläger beschäme. Barmherziger
Gott, Stütze der Schwachen und Unterdrückten, auf Dich allein habe ich meine
Hoffnung gesetzt!“

Kaum hatte die Sultanin dieses Gebet ausgesprochen, als
plötzlich ihre Bande sich lösten und abfielen. Zu gleicher Zeit sprang eine
Quelle lebendigen und reinen Wassers hervor, und die Gegend um sie her bedeckte
sich mit frischem Rasen und anmutigem Gebüsch. Das Kamel bot mit seinem Leib
ihr Schatten. Die Tochter Kamkars trank von diesem heilvollem Wasser unter
herzlichen Danksagungen zu Gott.

Zu derselben Zeit durchlief ein Kamelhüter, der etliche
von seinen Kamelen verloren hatte, die Wüste in der Hoffnung, sie hier
wieder zu finden, aber bisher war sein Suchen vergeblich gewesen. Diese Kamele
gehörten dem König, und ihr Hüter irrte noch auf gut Glück umher, weil er
nicht wagte, ledig nach dem Palast zurückzukehren, aus Furcht, durch seine
Nachlässigkeit den Zorn des Königs zu erregen. Als er nun von ferne ein Kamel
erblickte, wähnte er eins von seinen verlorenen wieder gefunden zu haben, aber
er erkannte bald seinen Irrtum. Zu gleicher Zeit war er höchst überrascht,
mitten in der Wüste auf einem reichen Rasenteppich eine holdselige Frau im
Gebet zu Gott zu erblicken.

Von Ehrfurcht bei diesem Anblick ergriffen, wartete er,
bis die Sultanin ihr Gebet geendigt hatte, und stand schweigend neben ihr. Als
er sah, dass ihr Gebet vollendet war, näherte er sich mit großer Höflichkeit
und grüßte sie ehrerbietig. „Schöne Frau,“ sprach er zu ihr,
„Ihr seid so allein in der Wüste, wollt Ihr meinen Schutz annehmen, so
will ich Euch als Beschützer und Vater dienen, und ich hoffe, mir dadurch die
Gnade des Allmächtigen zu verdienen.“

Die Sultanin nahm mit Freuden die ihr so unerwartet sich
darbietende Hilfe an, und der Kamelhüter gab ihr sogleich, was er an Vorrat
mitgebracht hatte, und fragte sie, welche Veranlassung sie so allein mitten in
diese wilde Wüste geführt hätte. Die Sultanin antwortete nicht auf diese
Fragen. Hierauf erzählte ihr der Kamelhüter, wie er die seiner Obhut anvertrauen
Tiere verloren und sie in dieser Wüste gesucht hätte, ohne sie wieder finden zu
können, und in der Voraussetzung, die Königin wäre eine jener andächtigen,
unaufhörlich der Anbetung und dem Dienst des Herrn geweihten Personen, empfahl
er sich ihrem Gebet und bat sie, sich zu seinen Gunsten zu verwenden, damit er
seine Kamele wieder fände.

Die Sultanin betete auch wirklich für ihn, und kaum hatte
sie ihr Gebet angefangen, als der Kamelhüter aus dem nahen Gehölz alle seine
verlorenen Kamele hervorkommen und herbeilaufen sah. Dieses Ereignis erfüllte
ihn mit Freuden. „Meine Tochter,“ sprach er, „die Löwen und
Tiger, welche diese Wüste durchstreifen, machen den Aufenthalt darin sehr
gefährlich: lasst uns eilig nach der Stadt zurückkehren: Ich will Euch in
meinem Haus ein Betzimmer einrichten lassen, wo Ihr ganz nach Eurer
Gemächlichkeit Euch Euren frommen übungen hingeben könnt.“

Hierauf band er die Kamele aneinander, setzte die Sultanin
auf eins derselben und bestieg selber ein anderes. Um die Stunde des
Abendgebetes erblickten die beiden Reisenden das Stadttor. Der Kamelhüter ließ
seine Gefährtin in seinem Haus absteigen, und wie er versprochen hatte, baute
er ihr ein Betgemach, wo sie sich gänzlich der Anbetung Gottes widmen konnte.

Kurze Zeit darauf, als der Kamelhüter zu dem König kam
und ihm von seiner Reise Bericht abstattete, sprach er zu ihm: „Herr, ich
bin Zeuge eines der außerordentlichsten Abenteuer gewesen, wovon Euer Majestät
jemals gehört hat. Wenn Ihr geruht, mich einige Augenblicke anzuhören, so will
ich es Euch erzählen.“ Und da der König neugierig schien, es zu hören,
so fuhr er fort: „Es ist ungefähr einen Monat her, dass ich einige von den
Kamelen Euer Majestät hatte laufen lassen. Um meine Unachtsamkeit wieder
gutzumachen, durchrannte ich die benachbarten Wüsten, wo meine Aufmerksamkeit
durch den Anblick eines Kamels angezogen wurde, welches neben einer lebendigen
Quelle und auf einer grünen Weise mit seinem Schatten eine ganz junge Frau
schützte. Diese Frau schien in ein heißes Gebet versunken, und ich glaubte,
dass sie ihrer Andacht die wunderbare Umgebung verdankte, in welcher ich sie
sah. Meine Vermutung bewährte sich auf der Stelle. Als ich mich ihr genaht
hatte, teilte ich ihr meine Verlegenheit mit: Und kaum hatte sie einige Worte
ausgesprochen, so sah ich meine verlorenen Kamele auf mich zulaufen. Ich habe
diese von der Gottheit so sichtbar begnadigte Frau gebeten, bei mir zu wohnen,
und ihr ein Betgemach bauen lassen, worin sie sich Nacht und Tag der Anbetung
Gottes widmet.“