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510. Nacht

„Wie?“, antwortete die Sultanin unwillig,
„Ihr seid es, Kardar, der, zugleich Gott und den Menschen trotzend, sich
erfrecht, mir so verbrecherische Anträge zu machen? Ihr wollt es wagen, den
Kreis des Harems zu entweihen, und Eure mörderischen Hände gegen Euren Herrn
aufzuheben?“

„Ja, ist es nicht eben dieser Herr, der ohne allen
Grund Euren Vater getötet hat? Ziemt es Euch also ihn zu verteidigen und ihn zu
lieben? Ohne Zweifel bereitet er Euch einst dasselbe Schicksal: Aber dann wird
es zu spät sein, der Anerbietung zu gedenken, welche ich Euch heute
mache.“

„Ich weiß nicht, welches Los mir die Vorsehung
bestimmt hat, und der Mensch vermag nicht sich dem weisen Ratschluss Gottes zu
widersetzen. Er hat den Tod meines Vaters gewollt, und ich muss seine
Beschlüsse verehren: Mit derselben Hingebung werde ich auch künftig hin seine
Gebote erwarten. Seid also versichert, Wesir, was mir auch beschieden sein mag,
ich werde mich ohne Murren unterwerfen.“

Mit diesen Worten stand sie auf, und ging wieder in das
Harem.

Diese Antwort ließ Kardar nicht mehr zweifelhaft über
die Empfindungen der Sultanin gegen ihn. Er sah nun wohl, wenn er es nicht
hintertriebe, so würde sie nicht verfehlen, ihn anzuklagen und bei seinem Herrn
zu stürzen. Er beschloss also, ihr zuvorzukommen, und sie einer entehrenden und
verbrecherischen Handlung zu zeihen, um den Eindruck Ihrer Anklage zu vereiteln,
welche unter solchen Umständen nur als eine ungegründete Gegenbeschuldigung
erscheinen musste.

Kurze Zeit nach diesem Vorgang hatte der Sultan den
unternommenen Feldzug ruhmvoll beendigt, und kehrte siegreich nach seiner
Hauptstadt zurück. Die Großen des Reichs und die vornehmsten Beamten, mit
Kardar an ihrer Spitze, kamen ihm mehrere Tagesreisen entgegen, um ihm ihre
Glückwünsche und Lobeserhebungen darzubringen und ihre Freude zu bezeugen,
dass sie ihn so gesund und glücklich wieder sähen. Der König nahm alles
gnädig auf, und zog mit ihnen nach der Stadt heim.

Als die Feierlichkeit beendigt war, fragte der Sultan
angelegentlich seinen Wesir, wie in seiner Abwesenheit alles ergangen wäre, und
erkundigten sich nach dem Zustand seines Reiches.

„Herr,“ antwortete Kardar, „alles ist,
während ihr zur Besiegung Eurer Feinde ausgezogen seid, ruhig und still
gewesen, und Eure getreuen Untertanen sind stolz darauf, unter der Herrschaft
Euer Majestät zu leben. Nur ein einziges Verbrechen ist vorgefallen, von
welchem ich das Unglück gehabt habe Zeuge zu sein, und welches ich Euch nicht
mitteilen kann.“

Als der König nun darauf bestand, dieses Verbrechen zu
wissen, fuhr der treulose Wesir fort: „Nein, Herr, meine Zunge kann die
Worte nicht aussprechen, welche Euch so tief verwunden müssen.“

„Aber die Unruhe, in welche Deine Rede mich
versetzt,“ sprach der Sultan, „ist noch hundertmal ärger, als die
Wahrheit selber: Säume drum nicht, meiner Beängstigung ein Ziel zu
setzen.“

„Wohlan denn, Herr,“ fuhr Kardar fort, „so
will ich reden (wenn ich es nur vermag), weil ihr doch immer von mir oder von
einem andern die traurige Neuigkeit erfahren müsst, die ich euch mitteilen
soll.“