Project Description

509. Nacht

Kardar ließ es sich so angelegen sein, dass er nach zwei
Tagesreisen die beiden Flüchtlinge einholte. Er ließ sie unerbittlich binden,
und führte sie so nach der Hauptstadt zurück.

„Elender,“ rief der Sultan bei dem Anblick
Kamkars wütend aus, „wo haben Deine frechen Schritte Dich
hingeführt?“, und zu gleicher Zeit warf er einen Stuhl mit solcher Gewalt
nach ihm, dass er dem unglücklichen Wesir den Schädel einschlug und auf der
Stelle verschied. Hierauf blickte er die Tochter seines Schlachtopfers an, und
wurde sogleich entwaffnet durch ihre Schönheit, ihre Anmut, den Ausdruck ihrer
schönen Augen, die Schlankheit ihres Wuchses, und die Sanftmut in allen ihren
Zügen. Er fühlte auf der Stelle den tiefen Eindruck einer leidenschaftlichen
Liebe, und dachte nur auf die Mittel, eine so schöne Frau zu besitzen.

Er ließ sogleich den Kadi und die Ulemas kommen, und
befahl ihnen, den Heiratsvertrag aufzusetzen. Hierauf hieß er sie in seinen
Harem bringen, und ließ alle ihre Sklaven, welche sie gewöhnlich bedienten,
bei ihr. Nur einen Lustigmacher, der sie erzogen hatte, nahm er davon aus und
verbot ihm den Eingang des Harems.

Diese Trennung betrübte den alten Diener sehr. Er schrieb
mehrmals an seine Herrin, bat sie, sich bei dem König um seine Zulassung bei
ihr zu verwenden, und erklärte, dass er vor Gram sterben würde, wenn seine
Bitte unerhört bleibe.

Die neue Sultanin bat ihren Gemahl um diese Gnade, welche
er nicht versagen konnte.

Die Gefälligkeit und die Sorgfalt, welche der König der
Tochter seines Wesirs widmete, ließen diese allmählich ihren grausamen Verlust
vergessen, und sie begann schon, sich an das Leben im Harem zu gewöhnen.

Aber während dieser Zeit war Kardar stets mit dem
Gedanken beschäftigt, wie er diejenige, die eine so heiße Begierde in ihm
entzündet hatte, in seien Gewalt bekäme, und sann unaufhörlich auf eine List,
sie dem König verdächtig zu machen, so dass sie aus dem Palast gejagt würde.

Der Zufall begünstigte sein verbrecherisches Vorhaben:
Ein Krieg brach aus, und der König war gezwungen, sich an die Spitze seiner
Heere zu stellen, und vertraute während seiner Abwesenheit die Verwaltung
seines Reiches dem Wesir. Kardar fand durch dieses gänzliche Zutrauen seines
Herrn um so leichter Mittel, der Sultanin zu nahen.

Er erblickte sie eines Tages von der Höhe eines flachen
Daches, welches die Aussicht auf die Gärten des Harems hatte: Sie war allein,
und saß in nachdenklicher Stellung da. Bei ihrem Anblick war die Freude des
Wesirs so groß, dass er sich beinahe von seinem Standort herabgestürzt hätte,
er ergriff schleunig ein Steinchen, und warf es nach der Gegend, wo die Tochter
Kamkars saß. Dieser Wurf veranlasste sie, die Augen aufzuschlagen, sie senkte
sie aber gleich wieder, sobald sie den Wesir erblickt hatte. Als dieser sah,
dass sie schweigend sitzen blieb, redete er sie mit einem Gruß an, welchen sie
erwiderte. Dreister gemacht, durch diese leichte Gunstbezeugung, rief er aus:

„Oh meine Seele, Ihr kennt die Liebe, welche Ihr mir
eingeflößt habt: Sie ist so heftig, dass sie mir Tag und Nacht keine Ruhe
lässt. Ohne Euch muss ich mein Leben traurig und schmachtend hinschleppen.
Würdigt mich Eures Mitleids, und erhört meine Wünsche, ich verheiße Euch
Glückseligkeit. Wenn Ihr mein herz nicht verschmäht, so fliehen wir, mit
unermesslichen Reichtümern, welche in meiner Gewalt sind, aus diesem Reich,
oder ich kann Euch auch den Thron desselben erhalten, indem ich mich durch ein
Gift von demjenigen befreie, der allein der Erfüllung meiner Wünsche im Weg
steht.“