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505. Nacht

„Herr,“ erwiderte der König von Arabien,
„ich beteure Euch, dass ich von königlichem Geblüt bin, wie Ihr. Geruht,
eine günstigere Meinung von meiner Person zu fassen: Euer Majestät kennt meine
Unschuld nicht, aber Gott kennt sie.“

Verwundert über die edle Weise, mit welcher der
Angeklagte sich ausdrückte, sah der König von Sangebar wohl, dass dieser
Mensch eine sorgfältige Erziehung genossen hatte. Befürchtend, durch den
Anschein getäuscht zu sein, verschob er seine Hinrichtung und ließ ihn ins
Gefängnis führen. Der König von Arabien ergab sich in sein Schicksal, und
brachte seine Zeit in Gebet hin.

Hinter dem Gefängnis befand sich ein angenehmer Hof, von
Bäumen beschattet und durch einen klaren Bach bewässert, wo man den Gefangenen
sich zu ergehen erlaubte.

Eines Tages sah der gefangene König eine Krähe sich auf
die Mauer des Hofes setzen: Um nun eine günstige oder ungünstige Vorbedeutung
für die Dauer seiner Gefangenschaft zu erlosen, sprach er bei sich selber:
„Lass sehen, ob ich mit diesem Knochen, welchen ich in der Hand habe, die
Krähe treffen kann. Das soll meine baldige Befreiung verkündigen: Wenn ich sie
dagegen verfehle, so bedeutet es, dass ich noch lange gefangen bleibe.“ So
spricht er, wirst den Knochen mit aller Macht, verfehlt aber den Vogel, welcher
davon fliegt.

Nun fügte es sich zufällig, dass jenseits der
Gefängnismauer auf einer weiten Wiese der Sohn des Königs von Sangebar seine
Truppen musterte und übte: Und da flog der von dem Gefangenen geschleuderte
Knochen dem Prinzen gerade ans Ohr und verwundete ihn schmerzlich.

Als der Prinz Abrahah sein Blut herabströmen sah, stieß
er ein Wehgeschrei aus, und gab Befehl, nachzuforschen, wer den Knochen
geschleudert hätte. Man verfehlte nicht, in dem König von Arabien den
Schuldigen zu entdecken, und führte ihn von neuen vor den König von Sangebar.

Abrahah erkannte seinen alten Herrn in diesem elenden
Zustand nicht. Der Sklave war jetzt ein Prinz, und der Fürst ein Sklave
geworden.

„Unglücklicher!“, rief der König von Sangebar
aus, als er seinen Sohn mit Blut bedeckt und den gefangenen König vor sich sah,
„was hast Du meinem geleibten Sohn getan? Du sollst jetzt Dein neues
Verbrechen mit Deinem Leben bezahlen. Ich war geneigt, Dich für unschuldig zu
halten, aber diese Missetat beweist hinlänglich, dass Du zum Mörder geboren
bist. Magst Du noch zu behaupten, dass Du unschuldig bist?“

„Herr,“ antwortete der König von Arabien,
„Ihr, dessen Gerechtigkeit in der ganzen Welt bekannt ist, wolltet ihr eine
der geheiligsten Vorschriften des göttlichen Gesetzes übertreten, welches die
Widervergeltung gebietet? Ich habe dem Prinzen das rechte Ohr entrissen,
befehlt also, dass man mir auch das meine nehme.“

„Nun wohl,“ Antwortete der König von Sangebar,
„Dein Begehren soll erfüllt werden: Man schneide ihm das Ohr ab.“

Der Scharfrichter wurde geholt. Aber Als der das Urteil
des Königs vollstrecken wollte, fand er kein rechtes Ohr mehr.

„Ha,“ fuhr der König von Sangebar fort,
„bist Du nunmehr nicht Deiner Verruchtheit überführt! Da sieht man es, Du
hast schon einmal die Strafe der Diebe erlitten, und die Verstümmelung Deines
Ohres zeugt genügend von dem ehrlosen Gewerbe, welches zu treiben Du nicht
schämst.“