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495. Nacht

Der arme Kaufmann glaubte endlich sein Glück gefunden zu
haben. Im ruhigen Genuss der Wohltaten des Königs, dessen Güte er segnete,
lebte er glücklich unter dem Schutz dieses Fürsten, als ein neuer Unfall
abermals seine Ruhe störte.

Bei Durchsuchung des Hauses, welches man ihm zur Wohnung
angewiesen hatte, bemerkte er ein mit losen Steinen ausgesetztes Fenster, und
hatte die Neugier zu sehen, wohin es führte. Kaum hatte er einen Teil der
Steine herausgenommen, als er sah, dass die Mauer an den Harem des Königs
stieß. Von Schrecken darüber befallen, bemühte er sich, die gemachte öffnung
sorgfältig wieder zuzumachen. Unglücklicherweise konnte er aber seine Arbeit
nicht unbemerkt vollenden: Ein Verschnittener, der ihn dabei beschäftigt sah,
lief hin und benachrichtigte den König davon.

Aus Furcht, eine neue Ungerechtigkeit gegen einen so
unglücklichen Menschen zu begehen, wollte dieser Fürst sich mit eigenen Augen
von der Anklage überzeugen, und begab sich schleunigst zur Stelle. Hier konnte
er sich nun selber überzeugen, dass die Steine der Mauer, welche das haus von
seinem Palast trennte, ganz frisch wieder eingesetzt waren.

Außer sich vor Wut über ein so frevelhaftes Unterfangen,
sprach er zu dem Kaufmann: „Undankbarer, dadurch also belohnst du meine
Wohltaten, dass du in mein Harem zu dringen suchst! Eine solche Frechheit soll
nicht ungestraft bleiben, und ich will es dir fortan unmöglich machen, Böses
zu tun: Die Augen sollen dir ausgestochen werden!“ Der Befehl des Königs
wurde auf der Stelle erbarmungslos vollstreckt.

„Ach, ich Unglücklicher!“, rief jetzt der Kaufmann
aus, „nicht zufrieden, mich all meiner Güter beraubt zu haben, greift
nunmehr das Missgeschick auch meine Person selber an.“

Dem armen, des Gesichts beraubten Mann blieb nichts
anderes übrig, als sein Brot zu betteln, und das Mitleid und die Unterstützung
der Vorübergehenden anzuflehen, indem er stets die Worte wiederholte:

„Alle Arbeit ist fruchtlos, wenn das Glück sie nicht
begünstigt, und ohne die Hilfe des Himmels ist kein Gedeihen!“

„Ihr seht, Herr,“ fuhr Bacht-jar fort, „an
diesem Kaufmann ein Beispiel von der Verfolgung des Missgeschicks. Ebenso kann
ich ein trauriges Schicksal nicht vermeiden, und alles vereinigt sich, mich zu
Boden zu drücken.“

Diese Geschichte, und die Jugend und Freimütigkeit des
Angeklagten, machten auf Asad-bachts Gemüt einen starken Eindruck, und
beruhigten eine Weile seinen Zorn. Er ließ also die Hinrichtung aufschieben,
jedoch mit dem festen Vorsatz, das frevelhafte Unterfangen seines Günstlings zu
bestrafen.

Am folgenden Morgen trat der dritte Wesir, der sich mit
allen den übrigen gegen das Leben des jungen Bacht-jar verschworen hatte, vor
den König hin, und sprach zu ihm: „Herr, ungern haben gestern eure Minister
vernommen, dass ihr noch das Leben desjenigen geschont habt, der soeben ein
Verbrechen begangen hat, dessen Schande auf unser ganzes Land zurückfällt. Die
Milde ist ohne Zweifel eine Tugend. Sie muss jedoch Grenzen haben. Der Honig ist
eine köstliche Speise. Er ist aber sehr gefährlich, wenn man zuviel davon
genießt. Wir dringen auf eine Handlung der Gerechtigkeit, welcher euer
Majestät nicht ohne Gefahr aufschieben kann.“

Diese Vorstellung überredete den Fürsten, der auf der
Stelle befahl, den angeklagten kommen zu lassen.

„Ich habe beschlossen,“ sprach er zu ihm,
„deine Bestrafung nicht länger aufzuschieben. Das Verbrechen, dessen du
dich schuldig gemacht hast, muss durch dein Blut gesühnt werden, und deine
Bestrafung soll meinen Untertanen zum heilsamen Beispiel dienen.“

Eben so ruhig, als am vorigen Tag, antwortete Bacht-jar
folgendermaßen: „Herr, mein Leben steht in Eurer Gewalt, und ihr habt
darüber zu gebieten. Aber bedenkt euch noch recht, bevor ihr meinen Tod
befehlt. Zu große Ungeduld und übereilung sind oft gefährlich, und man bereut
es manches Mal, dass man sich nicht überwunden hat, zu warten. So verlor der
Sohn des Königs von Halep, weil er nicht auf den rat seines Vaters hörte und
einer unverzeihlichen Ungeduld nachgab, zugleich den Thron und seine
Geliebte.“

„Wer war dieser Prinz von Halep?“, fragte Asad-bacht.

„Ich will es euch erzählen,“ antwortete
Bacht-jar und fuhr folgendermaßen fort:

Geschichte
Behesads, des Ungeduldigen

„Zu der Zeit als Halep die Hauptstadt einiger Staaten
umher war, herrschte dort ein König, der durch seine Gerechtigkeit, Güte,
Leutseligkeit und Milde bei seinen Untertanen beliebt war, und sich besonders
durch seine edelmütige Gastfreiheit gegen Fremde, welche sein Reich besuchten,
auszeichnete.

Dieser König hatte einen Sohn, Namens Behesad1)
einen Jüngling voll guter Eigenschaften, und der mit einer sehr umfassenden
Bildung große Anmut des Betragens verband. Er hatte nur den einzigen Fehler,
alles was er unternahm, mit der äußersten Ungeduld zu betreiben, und manchmal
eine unzeitige Lebhaftigkeit zu zeigen.


1)
Behesad: Beh-sad heißt: glücklich geboren.