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483. Nacht

Die Anmut, der Aufstand und die schöne Gestalt des
Prinzen hatten ihm die Neigung der Frau des Rabbiners erworben. Diese Frau
entdeckte ihm endlich, dass sie, als geborene Muselmännin, sehnlichst in den
Schoß der wahren Religion des Propheten zurückzukehren wünschte. Mahmud
benutzte dieses Vertrauen, und fragte sie, wo sich das von ihrem Mann bereitete
Sulhiat1)
befände, und durch welche Mittel man sich desselben bemächtigen könnte.

„Diese Nacht,“ antwortete sie ihm, „kommt
vorsichtig auf das flache Dach unseres Hauses, wo wir, der großen Hitze wegen,
schlafen. Ich werde dafür sorgen, dass die Türe offen ist. Steigt herauf, und
nehmt den Schlüssel seiner Werkstatt, ich werde euch dahin führen, ihr könnt
euch der köstlichen Tropfen bemächtigen, und zum Lohn dafür verlange ich,
dass ihr mich der muselmännischen Religion wiedergebt.“

Mahmud, voller Freuden, versprach alles nach ihrer
Anweisung auszuführen. Aber er schwur zu gleicher Zeit, seinen unglücklichen
Bruder zu rächen.

Um Mitternacht bewaffnete er sich mit einem Dolch, und
durchbohrte den Juden im Schlaf, mit den Worten: „Ich bin der Bruder eines
deiner Schlachtopfer.“ Er fasst nun die zitternde Gattin des Getöteten,
welche sich schon des Schlüssels bemächtigt hat, bei der Hand, beide steigen
zu der Werkstätte hinab, bemächtigten sich der Flasche mit dem Lebenswasser,
und eilten, dieses grauenvolle Haus zu verlassen, bevor die Sonne einen so grässlichen
Schauplatz beleuchtete.

Nach einer mühseligen Reise erreichten sie die Grenzen
Indiens, und wurden mit den lebhaftesten Freudenbezeigungen empfangen. Bei ihrer
Ankunft in der Hauptstadt fanden sie aber den Thron durch den Tod des alten
Königs erledigt, die Königin an den Pforten des Grabes, und den Staat durch
den Zwist der Wesire, welche sich die Herrschaft streitig machten, der
Zerrüttung preisgegeben. Die Heimkehr des jungen Prinzen beruhigte alles, und
das köstliche Wasser gab der Königin nach wenigen Tagen das Leben wieder.

Mahmud und seine erhabene Mutter wollten die
liebenswürdige Witwe des Juden, zum Dank für ihre Dienste, auf den Thron
erheben. Sie aber lehnte es mit der Versicherung ab, dass sie sich mit niemand
vermählen würde, ohne die Einwilligung ihres Vaters, welchem man sie im zarten
Alter entrissen hatte.

Man schickte nun Gesandte mit reichen Geschenken an den
Greis, der anfangs sehr überrascht durch diese Botschaft war, aber aus
wunderlichem Eigensinn seine Einwilligung in die Vermählung seiner Tochter
versagte, wenn der Bewerber nicht irgend ein Handwerk verstünde. „Das
Handwerk eines Sultans ist nicht sicher,“ sprach er, „heute ist man
auf dem Thron, und morgen läuft man Gefahr, nicht über eine Zeckine gebieten
zu können: Man muss sein Brot erwerben können.“

Der über diese Antwort sehr verwunderte Fürst würde
sich darüber hinweggesetzt und seine Hochzeit gefeiert haben, wie er jeden Tag
sehnlicher verlangte, wenn die kindliche Ehrfurcht seiner Braut sich nicht
standhaft widersetzt hätte. Der König lernte also, ihr zu Gefallen, ein
annehmliches Handwerk: Er legte sich darauf, Teppiche zu wirken, und schickte
sie seinem Schwiegervater.

Als dieser die Geschicklichkeit seines Schwiegersohnes
sah, machte er keine Schwierigkeit mehr, ihm seine Tochter zu bewilligen, und
die Hochzeit wurde mit großer Pracht vollzogen.


1) Sulhiat findet sich nicht
im Rabbinischen.