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461. Nacht

Hierauf wiederholte der Derwisch der Prinzessin Parisade
dieselbe Rede, welche er den Prinzen Bahman und Perwis gehalten hatte, und
übertrieb die Schwierigkeiten, den Gipfel des Berges zu erklimmen, auf welchem
der Vogel in seinem Käfig wäre, dessen sie sich bemächtigen müsste, worauf
der Vogel den Baum und das Wasser nachweisen würde. Er erzählte ihr von dem
Wirrwarr drohender und schreckbarer Stimmen, welche von allen Seiten sich hören
ließen, ohne dass man jemand sähe, und endlich von der Menge der schwarzen
Steine, welche allein schon hinreichend sein müssten, sie und jeden anderen
abzuschrecken, wenn sie wüsste, dass alle diese Steine eben so viele tapfere
Ritter wären, welche so verwandelt worden, weil sie die Hauptbedingung zur
glücklichen Ausführung dieses Unternehmens, nämlich, sich nicht umzudrehen
und zurückzuschauen, bevor man sich des Käfigs bemächtigt hat, zu beobachten
verfehlt haben.

Als der Derwisch seinen Bericht geendigt hatte, fuhr die
Prinzessin fort:

„Wie ich aus eurer Rede ersehe, so ist die große
Schwierigkeit zum Gelingen dieser Unternehmung, zuerst, bis zu dem Käfig
hinanzuklimmen, ohne sich durch das Gelärm der unsichtbaren Stimmen erschrecken
zu lassen, und zweitens, nicht rückwärts zu schauen. Was die letze Bedingung
betrifft, so hoffe ich, genügsam Herrin meiner selbst zu sein, um sie genau zu
beobachten. Die erste Bedingung anlangend, so gebe ich zu, dass jene Stimmen,
wie ihr sie mir beschreibt, wohl im Stande sein mögen, auch den Beherztesten zu
erschrecken. Aber da in keiner wichtigen und gefährlichen Unternehmung verboten
ist, List zu gebrauchen, so frage ich euch, ob man sich auch in diesem für mich
so wichtigen Abenteuer derselben bedienen darf?“

„Und welcher List wolltet ihr euch bedienen?“,
fragte der Derwisch.

„Mich dünkt,“ erwiderte die Prinzessin,
„wenn ich mir die Ohren mit Baumwolle verstopfe, so würden jene Stimmen,
wie stark und furchtbar sie auch sein mögen, einen viel geringeren Eindruck
machen. Da sie also auch weniger auf meine Einbildungskraft wirken können, so
würde mein Geist seine Freiheit behalten, und nicht in solche Verwirrung
geraten, dass er die Besinnung verlöre.“1)

„Edles Fräulein,“ antwortete der Derwisch,
„ich weiß nicht, ob von allen denjenigen, welche sich bisher an mich
gewandt und sich nach dem Weg erkundigt haben, wonach auch ihr mich fragt, sich
irgend einer der List bedient hat, welche ihr im Sinn habt. So viel weiß ich,
dass keiner derselben gegen mich gedacht hat, und dass alle umgekommen sind.
Wenn ihr in eurem Vorsatz beharrt, so könnt ihr den Versuch damit machen: Es
ist ein Glück, wenn es euch gelingt. Aber ich möchte euch nicht raten, es auf
die Gefahr hin zu wagen.“

„Guter Vater,“ entgegnete die Prinzessin,
„nichts hält mich ab, in meinem Vorsatz zu beharren. Mein Herz sagt mir,
dass diese List mir gelingen wird, und ich bin entschlossen, mich derselben zu
bedienen. Also ist mir nur noch nötig von euch zu erfahren, welchen Weg ich
nehmen muss. Ich beschwöre euch, mir diese Bitte nicht zu versagen.“

Der Derwisch ermahnte sie noch zum letzten Mal, es sich
wohl zu überlegen, und da er sie unerschütterlich in ihrem Vorsatz sah, so zog
er eine Kugel hervor, bot sie ihr dar, und sprach dabei:

„Nehmt diese Kugel, steigt wieder zu Pferd, und
nachdem ihr sie vor euch hingeworfen habt, so folgt ihr auf allen Umwegen nach,
in welchen ihr sie vor euch hinrollen seht, bis an den Berg, auf welchem
dasjenige ist, was ihr sucht, und wo sie stehen bleiben wird. Sobald sie still
steht, so haltet ihr auch an, steigt vom Pferd, und klimmt den Berg hinan. Auf
denn! Das übrige wisst ihr, vergesst nicht, es zu benutzen.“


1) Diese
List erinnert an die des Odysseus, bei den Sirenen.