Project Description

46. Nacht

Dinarsade versäumte nicht, die Sultanin früher als
gestern zu wecken, und Scheherasade fuhr in der Geschichte des zweiten Kalenders
also fort:

„So war ich denn, gnädige Frau,“ erzählte der
Kalender, „allein, verwundet, von aller Hülfe entblößt, in einem mir
unbekannten Lande. Ich wagte es nicht, wieder auf die große Straße zu gehen,
aus Furcht, den Räubern abermals in die Hände zu fallen. Nachdem ich meine
Wunde, die nicht gefährlich war, verbunden hatte, wanderte ich den übrigen Teil
des Tages fort, und erreichte den Fuß eines Berges, an dessen Abhang ich den
Eingang einer Höhle bemerkte. Ich trat hinein, und brachte die Nacht ziemlich
ruhig zu, nachdem ich einige Früchte gegessen, welche ich unterwegs gepflügt
hatte.

Den nächsten Morgen und die folgende Tage setzte ich
meine Wanderung fort, ohne einen Ort zu finden, wo ich mich aufhalten konnte.
Aber nach Verlauf eines Monats entdeckte ich eine große, volkreiche Stadt, in
einer vorteilhaften Lage von mehreren Strömen umher bewässert, und in einer
Gegend, wo ein immerwährender Frühling herrschte.

Die angenehmen Gegenstände, welche sich hier meinen Augen
darboten, erfreuten mich, und verscheuchten auf einige Augenblicke meine tödliche
Traurigkeit, mich in dem Zustande zu sehen, worin ich mich befand. Mein Gesicht,
Die Hände und die Füße waren ganz braun geworden, und von der Sonne
verbrannt; durch die lange Wanderung war mein Schuhzeug zerrissen, und ich war genötigt,
barfuss zu gehen; überdies waren meine Kleider ganz zerlumpt.

Ich ging in die Stadt, um mich zu erkundigen, wo ich war,
und wandte ich an einen Schneider, der in seinem Laden arbeitete. In Rücksicht
auf meine Jugend und Bildung, welche etwas anderes ankündigte, als ich schien,
ließ er mich bei sich niedersetzen. Er fragte mich, wer ich wäre, woher ich
käme und was mich hierher geführt hätte. Ich verschwieg ihm nichts von allem,
was mir begegnet war, und trug auch sogar kein Bedenken, ihm meinen Stand zu
entdecken.

Der Schneider hörte mir aufmerksam zu; als ich meine
Erzählung geendigt hatte, vermehrte er nur meinen Kummer, anstatt mir Trost zu
gewähren. „Hütet euch wohl,“ sagte er zu mir, „irgend jemand
das anzuvertrauen, was ihr mir hier mitgeteilt habt; denn der Fürst dieses
Landes ist der Feind des Königs, eures Vaters, und er würde euch ohne Zweifel
ein Leid antun, wenn er von eurer Ankunft in dieser Stadt unterrichtet
wäre.“

Ich zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit des Schneiders,
sobald er mir den Fürsten genannt hatte; aber da die Feindschaft zwischen ihm
und meinem Vater keinen Bezug auf meine Abenteuer hat, so erlaubet mir, gnädige
Frau, dass ich sie mit Stillschweigen übergehe.

Ich dankte dem Schneider für die Weisung, die er mir
gegeben hatte, und versicherte ihn, dass ich mich ganz seinem guten Rath
überlassen, und nie die Gefälligkeit vergessen würde, welche er mir erzeigte.
Da er wohl einsah, dass es mir nicht an Esslust fehlen könnte, so ließ er mir
zu essen bringen, und bot mir sogar eine Wohnung bei sich an, was ich denn auch
annahm.

Einige Tage nach meiner Ankunft, als er bemerkte, dass ich
hinlänglich hergestellt war von den Beschwerden meiner langen und mühseligen
Reise, und da er wohl wusste, dass die meisten Prinzen meines Glaubens, aus
Vorsicht gegen die Unfälle des Schicksals, irgend eine Kunst oder Handwerk
erlernen, um dasselbe im Falle der Not zu ergreifen, so fragte er mich, ob ich
dergleichen könnte, um davon zu leben, ohne jemand zur Last zu fallen. Ich
antwortete ihm, ich verstände beide Rechte, wäre Sprachkundiger, Dichter, und
vor allem schriebe ich vollkommen.

„Mit allem, was ihr mir da erzählt,“ erwiderte
er, „könnt ihr in diesem Lande nicht einen Bissen Brod verdienen; nichts
ist hier unnützer, als diese Art von Kenntnissen. Wenn ihr meinem Rate folgen
wollt,“ fügte er hinzu, „so ziehet ein kurzes Kleid an, und da ihr
mir stark und von tüchtiger Leibesbeschaffenheit zu sein scheinet, so gehet in
den benachbarten Wald, Brennholz zu hauen; bringet es auf den Markt zum
Verkaufe, und ich versichere euch, ihr werdet so ein kleines Einkommen gewinnen,
wovon ihr unabhängig leben könnt. Durch dieses Mittel werdet ihr euch in den
Stand setzen, ruhig abzuwarten, bis der Himmel euch günstig wird, und das Gewölk
des Missgeschicks zerstreut, welches Das Glück eures Lebens verdunkelt, und
euch nötigt, eure Geburt zu verbergen. Ich übernehme es, euch ein Seil und
eine Axt zu verschaffen.“

Die Furcht, erkannt zu werden, und die Notwendigkeit des
Unterhalts bestimmten mich, dieses Gewerbe zu ergreifen, ungeachtet der
Niedrigkeit und der Beschwerde, die damit verknüpft waren.

Gleich am folgenden Tage kaufte der Schneider mir eine Axt
und ein Seil, nebst einem kurzen Kleide; und dann empfahl er mich einigen armen
Einwohnern, welche auf dieselbe Weise ihren Unterhalt gewannen, und bat sie,
mich mit zu nehmen.

Sie führten mich nach dem Walde; und schon am ersten Tage
brachte ich auf meinem Kopfe eine starke Last Holz heim welche ich für ein
halbes Goldstück des Landes verkaufte; denn obgleich der Wald nicht sehr
entfernt war, so war das Holz nicht minder teuer in der Stadt, weil so Wenige
sich die Mühe gaben, hinzugehen und welches zu hauen. In kurzer Zeit gewann ich
ansehnlich, und ich gab dem Schneider das Geld zurück, welches er für mich
ausgelegt hatte.

Es war schon länger als ein Jahr, dass ich auf diese
Weise lebte, als ich eines Tages tiefer als gewöhnlich in den Wald eindrang,
und auf eine sehr anmutige Stelle kam, wo ich auch anfing Holz zu fällen. Indem
ich eine Baumwurzel herausriss, bemerkte ich einen eisernen Ring, welcher an
einer Falltüre von demselben Erze befestigt war. Ich räumte sogleich die Erde
darüber weg, hob sie auf und sah eine Treppe, welche ich mit meiner Art
hinab stieg.

Als ich am Fuße der Treppe war, befand ich mich in einem weitläufigen
Palast, und sah mit großer Verwunderung, dass es darin eben so hell war, als
wenn er über der Erde in der freiesten Gegen stände. Ich schritt vorwärts
durch eine Säulen-Halle von Jaspis mit Füßen und Knäufen von gediegenem
Golde; da sah ich eine Frau mir entgegen treten, die mir so edel, so lieblich,
und von einer so außerordentlichen Schönheit erschien, dass ich, aller andern
Gegenstände um mich vergessend, mich einzig ihrem Anblicke hingab; und ich
erinnerte mich in diesem Augenblicke, was ein Dichter von einer ähnlichen
Schönheit sagte, indem er sich also ausdrückte:

„Nie haben sich vier Dinge besser mit einander
vereinigt gefunden, um Herzen zu rauben und das Blut in Wallung zu bringen, als
bei diesem Mädchen; nämlich:

Die Mittags-Sonne der Stirn, die dunkle Nacht der Haare,
die Röte der Wangen, und der Tagesglanz des Leibes.“

Hier hörte Scheherasade auf zu reden, weil sie sah, dass
es Tag war.

„Meine liebe Schwester,“ sagte darauf Dinarsade,
„ich gestehe dir, dass ich sehr zufrieden mit demjenigen bin, was du heute
erzählt hast, und ich bilde mir ein, dass das übrige nicht minder wunderbar
ist.“

„Du täuschest dich nicht,“ antwortete die
Sultanin; „denn der Verfolg der Geschichte dieses zweiten Kalenders ist der
Aufmerksamkeit des Sultans, meines Herrn, noch würdiger, als alles was er
bisher gehört hat.“

„Ich zweifle daran;“ sagte Schachriar, indem er
aufstand. „Doch wollen wir morgen sehen.“