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452. Nacht

„Gnädiges Fräulein,“ fuhr die Alte fort,
„das erste dieser drei Dinge ist der sprechende Vogel. Das ist ein seltener
Vogel, Bülbülhesar1)
genannt, welcher die Eigenschaft hat, alle Singvögel aus der Gegend umher an
sich zu ziehen, dass sie herbeikommen, mit ihm zu singen. Das zweite ist der
singende Baum, dessen Blätter ebenso viel Zungen und Kehlen sind, deren
mannigfaltige Stimmen im Einklang unaufhörlich zusammen singen. Das dritte
endlich ist das goldgelbe, tanzende Wasser, von welchem ein einziger Tropfen in
ein dazu bereitetes Becken, an irgend einem Ort des Gartens, ausgegossen,
alsbald anschwillt, das Becken füllt, und aus der Mitte in einer Garbe von
Wasserstrahlen empor springt, und unaufhörlich auf- und niedersteigt, ohne dass
das Becken überläuft.“

„Ach, meine gute Mutter,“ rief die Prinzessin
aus, „wie sehr danke ich euch für die Kunde, welche ihr mir von diesen
Dingen gebt! Sie sind sehr wunderbar, und ich hatte niemals gehört, dass es
etwas so seltsames und wunderbares auf der Welt gäbe. Aber da ich überzeugt
bin, dass euch der Ort, wo sie sich befinden, nicht unbekannt ist, so erwarte
ich von euch die Gnade, dass ihr mir ihn anzeigt.“

Um der Prinzessin zu genügen, antwortete die fromme Alte:

„Edles Fräulein, ich würde mich der mir so gütig
von euch erwiesenen Gastfreundlichkeit unwürdig machen, wenn ich es versagte,
eure Neugierde zu befriedigen. Ich habe also die Ehre, euch zu sagen, dass diese
drei Dinge, von welchen ich euch erzählt habe, sich an einem und demselben Ort,
auf der Grenze dieses Königreiches nach Indien zu, befinden. Der Weg dahin
führt an eurem Haus vorbei. Derjenige, welchen ihr danach aussendet, darf ihn
nur zwanzig Tagreisen verfolgen, und wenn er am zwanzigsten Tag frägt, wo der
sprechende Vogel, der singende Baum und das tanzende Wasser sind, wird der
erste, an den er sich wendet, sie ihm nachweisen.“

Mit diesen Worten stand sie auf, und nachdem sie Abschied
genommen, entfernte sie sich, und setzte ihren Weg fort.

Die Prinzessin Parisade war so sehr damit beschäftigt,
die Nachweisung der frommen Alten über den sprechenden Vogel, den singenden
Baum und das tanzende Wasser sich einzuprägen, dass sie ihre Entfernung nicht
eher bemerkte, als bis sie ihr noch einige Fragen um nähere Auskunft tun
wollte. Denn ihr schien das aus ihrem Munde Vernommene nicht hinreichend, um mit
Erfolg eine Reise danach zu unternehmen. Gleichwohl wollte sie ihr nicht
nachschicken, um sie zurückzuholen, sondern sie strengte ihr Gedächtnis an, um
sich alles zu erinnern, was sie gehört hatte, und nichts davon zu vergessen.
Als sie glaubte, dass ihr nichts entgangen wäre, dachte sie mit großem
Wohlgefallen an das Vergnügen, welches sie haben würde, wenn sie zu dem Besitz
so wunderbarer Dinge gelangen könnte. Aber die Schwierigkeit, welche sie dabei
fand, und die Furcht des Misslingens, versetzten sie in große Unruhe.

Die Prinzessin Parisade war noch in diese Gedanken
versunken, als die Prinzen, ihre Brüder, von der Jagd heimkamen. Sie traten in
den Saal, und anstatt sie, wie gewöhnlich, mit heiterem Gesicht und frohes
Mutes anzutreffen, waren sie verwundert, sie in sich gekehrt, und wie betrübt
zu sehen, ohne dass sie einmal ihr Haupt erhub, um wenigstens zu erkennen zu
geben, dass sie ihre Ankunft bemerkte.

Der Prinz Bahman nahm das Wort und sprach:

„Meine Schwester, wo ist der Frohsinn und die
Heiterkeit, welche bisher von dir unzertrennlich gewesen sind? Bist du unwohl?
Ist dir irgend ein Unfall begegnet? Hat man dir irgend einen Anlass zum Verdruss
gegeben? Sage es uns, damit wir den uns geziemenden Teil daran nehmen, und
Mittel dagegen ergreifen, oder dich rächen, wenn jemand sich erkühnt hätte,
ein Fräulein, wie dich, der alle Ehrfurcht gebührt, zu beleidigen.“


1)
Bülbül-hesar heißt die tausend Nachtigallen.