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42. Nacht

Nachdem Schachriar der Sultanin bezeugt
hatte, dass sie ihm viel Vergnügen machen würde, wenn sie die Geschichte des
ersten Kalenders fortsetzte, nahm sie den Faden derselben wieder auf, mit
folgenden Worten:

„Gnädige Frau,“ sagte der Kalender
zu Sobeïde, „ich konnte nichts weiter von dem Prinzen, meinem Vetter,
herausbringen, und ich war genötigt, von ihm Abschied zu nehmen.

Indem ich zu dem Palast des Königs, meines
Oheims, zurückkehrte, stiegen die Weindünste mir zu Kopf. Ich erreichte jedoch
glücklich mein Zimmer, und legte mich nieder.

Als ich am folgenden Morgen bei meinem
Erwachen an das zurückdachte, was mir die Nacht begegnet war, und alle
Umstände eines so seltenen Abenteuers in mein Gedächtnis zurückrief, dünkte
es mich wie ein Traum.

Erfüllt von diesem Gedanken, sandte ich hin,
und ließ fragen, ob ich den Prinzen, meinen Vetter, wohl besuchen dürfte. Aber
als man mir den Bescheid brachte, dass er nicht zu Hause geschlafen hätte, und dass
man nicht wüsste, was aus ihm geworden, und man deshalb sehr in Sorgen wäre,
so erkannte ich wohl, dass die seltsame Begebenheit des Grabmals nur zu wahr
wäre.

Ich wurde herzlich betrübt darüber, entzog
mich aller Gesellschaft, und begab mich heimlich auf den öffentlichen Begräbnisplatz,
wo eine Anzahl Grabmäler standen, welche dem ähnlich waren, das ich gesehen
hatte. Ich brachte den ganzen Tag zu, sie eines nach dem andern zu betrachten;
aber ich konnte dasjenige nicht herausfinden, das ich suchte, und ich setzte
vier Tage lang dieselbe Nachforschung vergeblich fort.

Ich muss bemerken, dass während dieser Zeit
der König, mein Oheim, abwesend war; er war schon seit mehreren Tagen auf der
Jagd. Es währte mir zu lange, ihn zu erwarten; und nachdem ich seine Minister
gebeten hatte, ihm bei seiner Heimkehr meine Entschuldigung zu machen, verließ
ich seinen Palast, und begab mich wieder an den Hof meines Vaters, von welchem
ich niemals so lange entfernt gewesen war. Ich ließ die Minister des Königs,
meines Oheims, sehr in Sorgen über das Schicksal des Prinzen, meines Vetters.
Aber um den Eid nicht zu verletzen, welchen ich ihm getan hatte, sein Geheimnis
zu bewahren, wagte ich es nicht, sie aus der Unruhe zu ziehen, und ihnen etwas
von dem mitzuteilen, was ich wusste.

Ich kam in der Hauptstadt an, worin mein
Vater seinen Hof hielt; und wider Gewohnheit fand ich an der Tür seines
Palastes eine zahlreiche Wache, von welcher ich beim Eintritte umringt wurde.
Ich fragte nach der Ursache davon; und der Offizier nahm das Wort und erwiderte:
„Prinz, das Heer hat dem Großwesir, anstatt eures Vaters, der nicht mehr
ist, gehuldigt, und ich nehme euch im Namen des neuen Königs gefangen.“

Bei diesen Worten ergriff mich die Wache und
führte mich vor den Tyrannen. Denket euch, Herrin, mein Erstaunen und meinen
Schmerz.

Dieser abtrünnige Wesir hatte einen tödlichen
Hass auf mich, welchen er schon lange bei sich nährte. Folgendes war der Grund
desselben: in meiner zartesten Jungend schoss ich gern mit der Armbrust; eines
Tages stand ich oben auf dem flachen Dache des Palastes, und belustigte mich
damit zu schießen; da zeigte sich vor mir ein Vogel, ich zielte nach ihm, aber
ich schoss vorbei, und der Pfeil fuhr unglücklicher Weise dem Wesir, welcher
auf dem Dache seines Hauses frische Luft schöpfte, gerade ins Auge, und bohrte
es ihm aus. Sobald ich dieses Unglück erfuhr, ließ ich dem Wesir
Entschuldigungen machen, und machte sie ihm auch selber: er aber behielt stets
den bittersten Groll gegen mich, von welchem er mir bei jeder Gelegenheit
beweise gab. Er ließ ihn auf eine unmenschliche Weise ausbrechen, als er jetzt
mich in seiner Gewalt sah: wie ein Rasender rannte er auf mich zu, sobald er
mich erblickte, griff mit seinen Fingern in mein rechtes Auge, und riss es mir
selber aus. Da habt ihr das Abenteuer, wodurch ich einäugig ward.

Aber der Tyrann begnügte damit noch nicht
seine Grausamkeit; er ließ mich in einen Kasten sperren, und befahl dem
Scharfrichter, mich in diesem Zustande weit vom Palast wegzutragen, und mich den
Vögeln zum Raube zu geben, nachdem er mir den Kopf abgeschlagen hätte.

Der Scharfrichter, in Begleitung eines andern
Mannes, stieg zu Pferde, nahm den Kasten, ritt so hinaus, und hielt auf dem
Felde still, um seinen Befehl zu vollziehen. Aber ich brachte es durch meine
Bitten und Tränen dahin, dass ich sein Mitleid erregte. „Gehet,“
sagte er zu mir, „und verlasset schleunig das Königreich, und hütet euch
wohl, wieder herzu kommen; denn ihr würdet eurem Verderben begegnen, und
zugleich der Urheber des meinen sein.“ Er bekräftigte dies durch folgende
Verse:

„Rette dein Leben, wenn Nachstellungen dich verfolgen, und lass dein Haus
über die Abwesenheit seines Erbauers wehklagen.

Du wirst immer ein anderes Land finden,
anstatt dessen, das du verlässt, aber dich selbst kannst du nicht wieder
herstellen.“

Ich dankte ihm für die Gnade, die er mir
erwies, und ich war nicht sobald allein, als ich mich über den Verlust meines
Auges tröstete, indem ich bedachte, dass ich einem noch größeren Unglück
entronnen war.

In dem Zustande, worin ich mich befand,
konnte ich keinen weiten Weg zurücklegen; ich verbarg mich bei Tage an
abgelegenen Orten, und wanderte während der Nacht, so weit als es meine Kräfte
erlaubten. Endlich langte ich in den Staaten des Königs, meines Oheims, an, und
begab mich nach seiner Hauptstadt.

Ich machte ihm eine umständliche Erzählung
von der verhängnisvollen Ursache meiner Wiederkehr und des traurigen Zustandes,
worin er mich sah: „Weh,“ rief er aus, „war es noch nicht genug,
meinen Sohn verloren zu haben! Musste ich den Tod eines so teuren Bruders
erleben, und dich in diesem so jammervollen Zustande sehen!“

Er teilte mir die Unruhe mit, in welcher er
sich befand, dass er keine Kunde von dem Prinzen, seinem Sohne bekommen, welche
Nachforschungen er auch angestellt, und welche Mühe er auch angewendet hatte.
Dieser unglückliche Vater weinte heiße Tränen, indem er mit mir sprach, und
erschien mir in solcher Betrübnis, dass ich seinem Schmerze nicht widerstehen
konnte. Welchen Eid ich auch dem Prinzen, meinem Vetter, geschworen hatte, es
war mir unmöglich, ihn zu halten. Ich erzählte dem Könige, seinem Vater,
alles was ich wusste.

Der König hörte mit Verwunderung zu, und
als ich geendigt hatte, sagte er zu mir: „Lieber Neffe, die Entdeckung, die
du mir machst, gibt mir einige Hoffnung. Es ist mir bekannt, dass mein Sohn ein
Grabmal erbauen ließ, und ich weiß ungefähr in welcher Gegend: mit hülfe der
Erinnerung, welche dir davon geblieben ist, schmeichle ich mir, dass wir es
wieder finden werden. Aber weil er es heimlich hat bauen lassen, und einen Eid
von dir gefordert hat, so bin ich der Meinung, dass wir beide ganz allein
ausgehen, es zu suchen, um alles Aufsehen zu vermeiden.“

Er hatte noch eine andere Ursache, aller Welt
die Kenntnis hiervon zu entziehen, verschwieg sie mir aber. Und diese Ursache
war eine höchst wichtige, wie der Verfolg meiner Geschichte kund tun wird.

Wir verkleideten uns beide, und gingen durch
eine Gartentüre hinaus aufs Feld. Wir waren glücklich genug, bald zu finden,
was wir suchten. Ich erkannte das Grabmal, und hatte um so größere Freude
darüber, als ich es lange vergeblich gesucht hatte. Wir traten hinein, und
fanden die eiserne Falltüre über dem Eingange zugeschlagen. Wir hatten Mühe,
sie aufzuheben, weil der Prinz sie von innen mit dem Gips und Wasser, wovon ich
vorhin gesagt habe, vermauert hatte; doch huben wir sie endlich auf.

Der König, mein Oheim, trat zuerst hinein;
ich folgte ihm, und wir stiegen etwa fünfzig Stufen hinab. Als wir am Fuße der
Treppe waren, befanden wir uns in einer Art von Vorzimmer, das ganz von einem
dicken übel riechenden Dampfe erfüllt war, welcher das Licht von einem sehr
schönen Kronleuchter verdunkelte.

Aus diesem Vorzimmer traten wir in einen
großen Saal, der auf starken Säulen ruhte, und von mehreren andern
Kronleuchtern erhellt war. In seiner Mitte war ein Wasserbecken, und man sah
hier auf der einen Seite Mundvorräte mancherlei Art aufgeschichtet. Wir waren
sehr verwundert, auch hier niemand zu finden. Der Türe gegenüber war eine
ziemlich hohe Bühne, zu welcher man einige Stufen hinan stieg, und auf welcher
ein sehr breites Bette stand, dessen Vorhänge zugezogen waren. Der König stieg
hinauf, öffnete sie, und erblickte den Prinzen, seinen Sohn, neben der Frau
liegen, aber beide ganz verbrannt und in Kohlen verwandelt, wie man sie in ein
großes Feuer geworfen und wieder herausgezogen wären, bevor sie gänzlich
verzehrt worden.

Was mich noch mehr als alles andere erstaunte
bei diesem Entsetzen erregenden Anblick, war, dass der König, mein Oheim,
anstatt Betrübnis über diesen scheußlichen Zustand seines Sohnes zu zeigen,
ihm ins Angesicht spie, indem er mit erzürnter Miene zu ihm sprach:
„Siehe, das ist die Strafe auf dieser Welt; aber die der andern Welt wird
ewig dauern.“

Er begnügte sich hiermit noch nicht, sondern
er zog seinen Schuh aus, und gab damit seinem Sohne einen derben Schlag auf die
Backe.

„Aber Herr,“ sagte Scheherasade,
„es ist Tag, und es tut mir leid, dass Euer Majestät nicht Muße hat,
weiter zu hören.“

Da die Geschichte des ersten Kalenders noch
nicht vollendet war, und sie dem Sultan sehr seltsam schien, stand er mit dem Entschluss
auf, in der folgenden Nacht das übrige zu hören.