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409. Nacht

Kaum sah sich der Prinz Achmed in dem Zimmer Nurunnihars
und die im Sterben liegende Prinzessin, als er nebst seinen Brüdern von dem
Teppich aufstand, sich ihrem Bett näherte und ihr den Wunderapfel vor die Nase
hielt. Einige Augenblicke nachher schlug die Prinzessin die Augen auf, und
wendete den Kopf nach beiden Seiten hin, sah die Umstehenden an, setzte sich
dann auf und verlangte angekleidet zu werden, und zwar mit derselben
Unbefangenheit und Besonnenheit, als ob sie bloß von einem langen Schlaf
erwachte. Ihre Frauen sagten ihr nun sogleich, dass sie den drei Prinzen, ihren
Vettern, und vor allen dem Prinzen Achmed diese plötzliche Wiederherstellung
ihrer Gesundheit verdanke. Sie bezeigte ihnen daher ihre Freude, sie
wieder zu sehen, und stattete ihnen insgesamt und dem Prinzen Achmed insbesondere
ihren Dank ab. Da sie angekleidet zu werden wünschte, so begnügten sich die
Prinzen, ihr ihre große Freude darüber zu bezeigen, dass sie gerade zu rechter
Zeit noch angelangt seien, um insgesamt dazu beitragen zu können, sie aus ihrer
augenscheinlichen Lebensgefahr zu retten, und nachdem sie ihr noch ihre innigen
Wünsche für eine recht lange Dauer ihres Lebens an den Tag gelegt, entfernten
sie sich.

Während die Prinzessin sich ankleidete, gingen die
Prinzen von ihr unmittelbar hin, um sich zu den Füßen ihres Vaters, des
Sultans, zu werfen und ihm ihre Ehrerbietung zu bezeigen. Als sie vor ihm
erschienen, fanden sie, dass der Oberaufseher der Verschnittenen der Prinzessin
ihnen bereits zuvorgekommen war und ihm ihre unvermutete Ankunft und die durch
sie erfolgte vollständige Heilung der Prinzessin angemeldet hatte. Der Sultan
umarmte sie um desto freudiger, da er in dem Augenblick, wo er sie wieder sah,
auch zugleich erfuhr, dass seine Nichte, die Prinzessin, die er wie seine eigene
Tochter liebte, nachdem sie von den ärzten bereits aufgegeben worden, auf eine
so wunderbare Weise ihre Gesundheit wiedererhalten habe. Nach den bei solchen
Gelegenheiten üblichen Begrüßungen zeigte jeder der Prinzen ihm die
mitgebrachte Seltenheit vor: Der Prinz Hussain seinen Teppich, den er aus dem
Zimmer der Prinzessin wieder mitgenommen hatte, der Prinz Ali das elfenbeinerne
Rohr, und der Prinz Achmed den künstlichen Apfel: Und Nachdem jeder das seinige
heraus gepriesen, händigten sie ihm nach der Reihe alle drei Stücke ein und
baten ihn zu entscheiden, welchem von den drei Stücken er den Vorzug erteile
und welchem unter ihnen dreien er seinem Versprechen gemäß die Prinzessin
Nurunnihar zur Gemahlin gebe.

Der Sultan von Indien, nachdem er sehr wohlwollend alles,
was ihm jeder der Prinzen zum Lob der von ihm mitgebrachten Seltenheit sagen
mochte, ohne Unterbrechung angehört und sich nach allem, was bei der Heilung
der Prinzessin vorgegangen, wohl erkundigt hatte, schwieg eine Weile still, als
überlegte er, was er ihnen antworten solle. Endlich unterbrach er dieses
Schweigen und hielt folgende sehr weise Rede an sie:

„Meine Kinder, ich würde sehr gern einen unter euch
nennen, wenn ich es mit voller Gerechtigkeit tun könne. Allein überlegt
selber, ob ich es kann. Dir, o Achmed, und deinem künstlichen Apfel verdankt
freilich die Prinzessin, meine Nichte, ihre Heilung. Aber ich frage dich selber,
würdest du sie haben bewirken können, wenn nicht zuvor das elfenbeinerne Rohr
Alis dir Gelegenheit gegeben hätte, die Gefahr kennen zu lernen, worin sie
schwebte, und wenn nicht der Teppich Hussains dir seine Dienste geleistet
hätte, um ihr schnell zu Hilfe eilen zu können? Dein elfenbeinernes Rohr, o
Ali, hat wiederum dazu gedient, dir und deinen Brüdern zu zeigen, dass ihr auf
dem Punkt standet, die Prinzessin zu verlieren, und dafür ist sie, wie man
gestehen muss, dir großen Dank schuldig. Doch musst du auch gestehen, dass dir
deine Kenntnis für die Erreichung des Zwecks nichts genützt hätte, wenn nicht
der Teppich und der künstliche Apfel gewesen wäre. Und was dich, Hussain,
betrifft, so würde die Prinzessin sehr undankbar sein, wenn sie dir nicht wegen
des Teppichs, der zu Bewirkung ihrer Wiederherstellung so nötig gewesen, vielen
Dank wissen sollte. Allein bedenke selbst, dass er dir hierzu von gar keinem
Nutzen gewesen sein würde, wenn du nicht durch das elfenbeinerne Rohr Alis ihre
Krankheit erfahren und Achmed nicht seinen Wunderapfel zu ihrer Heilung
angewendet hätte. Da nun also weder der Teppich, noch das elfenbeinerne Rohr,
noch der künstliche Apfel irgend einem von euch einen Vorzug vor den andern
geben, sondern vielmehr euch alle einander gleichstellen, und da ich die
Prinzessin Nurunnihar doch nur einem einzigen geben kann, so seht ihr selber,
dass die einzige Frucht, die ihr von euren Reisen geerntet habt, in dem Ruhm
steht, dass ihr alle auf gleiche Weise zur Herstellung ihrer Gesundheit
beigetragen habt.“

„Wenn dies nun so ist,“ fuhr der Sultan fort,
„so seht ihr zugleich ein, dass ich zu einem anderen Mittel meine Zuflucht
nehmen muss, um mich über die Wahl, die ich unter euch darin treffen soll,
bestimmt zu entscheiden. Da es nun aber bis zu Anbruch der Nacht noch lange hin
ist, so will ich noch heute folgendes tun. Geht und nehmt ein jeder einen Bogen
und einen Pfeil, und begebt euch aus der Stadt hinaus auf die große Ebene, wo
die Pferde zugeritten werden. Ich werde eben dahin mich begeben und ich
erkläre, dass ich die Prinzessin Nurunnihar demjenigen zur Gemahlin geben
werde, welcher am weitesten schießen wird.“

„übrigens kann ich bei dieser Gelegenheit nicht
unterlassen, euch insgesamt und jedem noch insbesondere für das Geschenk zu
danken, welches ihr mir mitgebracht habt. Ich besitze in meiner Sammlung gar
manche Seltenheiten, doch keine einzige derselben kommt an Vorzüglichkeit dem
Teppich, dem elfenbeinernen Rohr, und dem künstlichen Apfel bei, womit ich
jetzt meine Sammlung vermehren und bereichern will. Alle drei Stücke werden die
erste Stelle darin einnehmen, und ich werde sie das sorgfältig aufbewahren,
nicht bloß wegen ihrer Merkwürdigkeit, sondern auch um bei Gelegenheit
nützlichen Gebrauch davon zu machen.“

Die drei Prinzen wussten gegen diese, soeben
ausgesprochene Entscheidung des Sultans nichts einzuwenden. Als sie sich von
seinem Angesicht entfernt hatten, verschaffte man einem jeden von ihnen einen
Bogen und einen Pfeil, die sie sofort einem von ihren Dienern, die sich auf die
Nachricht von ihrer Wiederkehr sogleich versammelt hatten, einhändigten und
sich dann, von einer unzähligen Menge Volk begleitet, auf die Ebene hinaus
begaben, wo die Pferde zugeritten zu werden pflegten.

Der Sultan ließ nicht lange auf sich warten. Sobald er
angekommen war, nahm der Prinz Hussain, als der älteste, Pfeil und Bogen und
schoss zuerst. Darauf schoss der Prinz Ali, und man sah seinen Pfeil viel weiter
fliegen und niederfallen, als den des Prinzen Hussain. Der Prinz Achmed schoss
zuletzt, aber man verlor seinen Pfeil aus dem Gesicht, und niemand sah ihn
niederfallen. Man eilte hin, man suchte, allein wie viel Sorgfalt alle und auch
der Prinz Achmed selber anwendeten, es war nicht möglich, den Pfeil weder in
der Nähe noch in der Ferne aufzufinden. Obwohl man glauben musste, dass er am
weitesten geschossen und folglich verdient habe, dass ihm die Hand der
Prinzessin Nurunnihar zugesprochen würde, so war dennoch, um die Sache
augenscheinlich und gewiss zu machen, die Auffindung des Pfeils erforderlich,
und der Sultan ermangelte daher nicht, ungeachtet aller Gegenvorstellungen
Achmeds, sich zu Gunsten seines Bruders Ali zu entscheiden. Er gab nun sogleich
Befehl, dass zu der Hochzeitsfeier die nötigen Anstalten getroffen würden, und
wenige Tage darauf wurde die Hochzeit mit vielem Glanz gefeiert.