Project Description

4. Nacht

Gegen das Ende der folgenden Nacht begann Scheherasade,
mit Erlaubnis des Sultans, folgendermaßen:

„Herr, als der Greis mit der Hinde sah, dass der
Geist den Kaufmann ergriff, und ihn unbarmherzig töten wollte, so warf er sich
dem Ungeheuer zu Füßen, küsste sie, und sprach zu ihm: „Fürst der
Geister, ich flehe Euch demütigst an, haltet ein mit Eurem Zorn, und habt die
Gnade mich anzuhören. Ich will euch meine Geschichte mit dieser Hinde
erzählen, welche Ihr hier sehet, und wenn Ihr sie wunderbarer und
überraschender findet, als das Abenteuer dieses Kaufmanns, dem Ihr das Leben
nehmen wollt, darf ich als dann wohl hoffen, dass Ihr diesem armen
Unglücklichen ein Drittheil seines Verbrechens erlassen wollt?“

Der Geist besann sich einige Zeit, endlich antwortete er:
„Wohlan, lass hören, ich willige drein.“

Geschichte
des ersten Greises und der Hinde

„Ich will also,“ fuhr der Greis fort,
„meine Erzählung beginnen; höret mir, ich bitte euch, mit Aufmerksamkeit
zu. Diese Hinde, die Ihr hier sehet, ist meine Nichte, noch mehr, sie ist meine
Frau. Sie war nur zwölf Jahre alt, als ich sie heiratete; ich kann also wohl
sagen, dass sie mich nicht weniger als ihren Vater, denn als ihren Oheim und
Gatten, anzusehen hatte.

Wir haben dreißig Jahre zusammen gelebt, ohne Kinder zu
bekommen; aber ihre Unfruchtbarkeit hat mich nicht verhindert, große
Gefälligkeit und Freundschaft für sie zu haben. Nur das Verlangen, Kinder zu
haben, bestimmte mich, eine Sklavin zu kaufen, von welcher ich einen Sohn hatte1), der die glücklichsten Anlagen zeigte. Meine Frau ward darüber
eifersüchtig, und verabscheute die Mutter und das Kind, verbarg aber ihre
Gesinnung so gut, dass ich sie nur zu spät erfuhr.

Unterdessen wuchs mein Sohn auf, und er war schon zehn
Jahre alt, als ich genötigt wurde, eine Reise zu machen. Vor meiner Abreise
empfahl ich meiner Frau, der ich keineswegs misstraute, die Sklavin und das Kind
und bat sie, während meiner Abwesenheit, Sorge für sie zu tragen. Ich blieb
ein ganzes Jahr aus, und diese Zeit benutzte sie, ihren Hass zu befriedigen. Sie
legte sich auf die Zauberei, und als sie genug von dieser teuflischen Kunst wusste,
um ihr schreckliches Vorhaben ins Werk zu richten, führte die Verworfene meinen
Sohn an einen abgelegenen Ort, dort verwandelte sie ihn durch ihre
Beschwörungen in ein Kalb, und übergab es meinem Pächter, mit dem Befehl, ihn
zu füttern wie ein Kalb, welches sie, wie sie sagte, gekauft hätte. Ihre Wut begnügte sich aber nicht mit dieser verabscheuungswürdigen Handlung: sie
verwandelte auch die Sklavin in eine Kuh, und übergab sie meinem Pächter.

Bei meiner Heimkehr fragte ich sie nach der Mutter und dem
Kinde. „Deine Sklavin ist tot,“ antwortete sie, „und deinen Sohn
habe ich seit zwei Monaten nicht gesehen, und weiß nicht, was aus ihm geworden
ist. „Ich war betrübt über den Tod der Sklavin, aber da mein Sohn nur
verschwunden war, so schmeichelte ich mir, ihn wohl noch wieder zu sehen. Dennoch
vergingen acht Monate, ohne dass er zurückkam, und ich hatte noch keine Kunde
von ihm, als das große Bairams-Fest herannahte2).

Um dieses zu feiern gebot ich meinem Pächter, mir eine
der fettesten Kühe zu bringen, welche ich opfern wollte. Er gehorchte, und die
Kuh, welche er mir brachte, war die verwandelte Sklavin, die unglückliche
Mutter meines Sohnes. Ich band sie; als ich mich aber anschickte, sie zu opfern,
stieß sie ein klägliches Gebrüll aus, und ich gewahrte, dass Tränenströme
aus ihren Augen stürzten. Dieses schien mir sehr seltsam, und von einem
unwillkürlichen Gefühle des Mitleids ergriffen, konnte ich mich nicht
entschließen, sie zu schlachten. Ich befahl meinem Pächter, mir eine andere zu
holen.

Meine Frau, welche gegenwärtig war, ergrimmte über mein
Mitleid; sie widersetzte sich meinem Befehle, welcher ihre Bosheit zu Schanden
machte, und rief aus: „Was machst du, mein Freund? Opfere doch diese Kuh.
Dein Pächter hat keine schönere, noch eine, die mehr sich zu dem Feste eignet,
das wir begehen wollen.“

Aus Gefälligkeit gegen meine Frau, näherte ich mich der
Kuh, und das Mitleid bekämpfend, welches das Opfer verzögerte, war ich im
Begriff, den tödlichen Streich zu tun, als das Opfertier sein Weinen und
Gebrüll verdoppelte und mich zum zweiten Mal entwaffnete. Da gab ich dem
Pächter den Schlägel in die Hand, und sagte zu ihm: „Nimm, und opfere sie
selber; ihr Gebrüll und ihre Tränen zerreißen mir das Herz.“

Der Pächter, weniger mitleidig als ich, opferte sie; aber
beim Abziehen der Haut fand sich, dass nichts als Knochen daran war, obgleich
sie uns sehr fett geschienen hatte. Ich war recht verdrießlich darüber.
„Nimm sie für dich,“ sagte ich zu dem Pächter, „ich überlasse
sie dir; gib Geschenke und Almosen davon, wem du willst; und wenn du ein recht
fettes Kalb hast, so bringe es mir an ihrer Stelle.“

Ich bekümmerte mich nicht darum, was er mit der Kuh
machte; aber bald darauf, nachdem er sie mir hatte aus den Augen tragen lassen,
sah ich ihn mit einem sehr fetten Kalbe daher kommen. Obschon ich nicht wusste, dass
dieses Kalb mein Sohn wäre, so fühlte ich nichtsdestoweniger bei seinem
Anblick meines Inneres sich regen. Er seinerseits, sobald er mich erblickte, strengte
sich so gewaltig an, zu mir zu kommen, dass er seinen Strick zerriss. Er warf
sich zu meinen Füßen, und neigte den Kopf zur Erde, als wenn er mein Mitleid
erregen und mich beschwören wollte, nicht so grausam zu sein und ihm das Leben
zu rauben.

Ich war über diesen Vorgang noch mehr überrascht und
gerührt, als ich es über die Tränen der Kuh gewesen war. Ich fühlte ein
zärtliches Mitleid, welches mir Teilnahme für ihn einflößte; oder vielmehr,
das Blut tat in mir seine Schuldigkeit. „Geh,“ sagte ich zu dem
Pächter, „und führte dieses Kalb zurück, pflege dasselbe wohl, und an
seiner Stelle bringe mir ungesäumt ein anderes her.“

Sobald meine Frau mich so reden hörte, ermangelte sie
nicht, noch einmal auszurufen: „Was tust du, lieber Mann? Folge mir, und
opfere kein anders Kalb, als dieses da.“ – „Frau,“ antwortete ich
ihr, „ich werde dieses hier nicht opfern, ich will ihm das Leben schenken,
und ich bitte dich, dich dem nicht zu widersetzen.“ Sie hütete sich wohl,
das boshafte Weib, meiner Bitte nachzugeben; sie hasste meinen Sohn zu sehr, um
einzuwilligen, dass ich ihn rettete. Sie verlangte seine Opferung mit solcher
Hartnäckigkeit von mir, dass ich genötigt wurde, sie ihr zu gewähren. Ich
band das Kalb an, und ergriff das unselige Messer …“

Scheherasade hielt hier inne, weil sie den Tag bemerkte.

„Liebe Schwester,“ sagte darauf Dinarsade,
„ich bin ganz bezaubert von diesem Märchen, welches so angenehm meine
Aufmerksamkeit gespannt hält.“ – „Wenn der Sultan mich heute noch
leben lässt,“ erwiderte Scheherasade, „so wirst du sehen, dass das,
was ich dir morgen erzählen werde, dich noch weit mehr ergötzen wird.“

Schachriar, neugierig zu wissen, was aus dem Sohne des
Greises mit der Hinde werden würde, sagte zu der Sultanin, dass er mit
Vergnügen in der folgenden Nacht das Ende dieser Erzählung hören würde.


1)
Der Sohn einer Sklavin wird als rechtmäßig angesehen, sofern der Vater der
Eigentümer der Sklavin ist, und ihn förmlich anerkannt hat. E.G. – Das
bürgerliche Gesetz der Mohammedaner erkennt die Kinder aus den drei Arten der
nach ihrer Religion erlaubten Ehen, indem man eine Frau kaufen, mieten oder
heiraten kann, für gleich rechtmäßig: so dass der früher geborne Sohn einer
Sklavin, vor dem Sohn einer Gemahlin auch die Rechte der Erstgeburt hat.