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390. Nacht

Es lässt sich nicht beschreiben, wie sehr der Kalif Harun
Arreschyd die Klugheit und den Verstand des Kindes bewunderte, welches soeben
ein so richtiges Urteil über die Angelegenheit gefällt hatte, die den
folgenden Tag vor ihm verhandelt werden sollte. Indem er sich von der Ritze
entfernte und aufstand, fragte er seinen Großwesir, welcher gleichfalls auf
das, was da vorgegangen, aufmerksam gewesen war, ob er wohl das von dem Kind
gefällte Urteil gehört habe, und was er dazu meine?

„Beherrscher der Gläubigen,“ erwiderte der
Großwesir Giafar, „es kann niemand mehr über eine so seltsame Klugheit in
so zartem Alter überrascht sein, als ich es bin.“

„Aber,“ fuhr der Kalif fort, „weißt du
wohl, dass ich morgen über dieselbe Sache zu entscheiden habe, und dass der
wirkliche Ali Kodjah mir heute seine Bittschrift deshalb überreicht hat?“

„Ich erfahre es erst in diesem Augenblick von Euer
Majestät,“ antwortete der Großwesir.

„Glaubst du,“ fing der Kalif noch einmal an,
„dass ich darüber ein andres Urteil fällen könnte, als das, was wir
soeben gehört haben?“

„Wenn der Fall derselbe ist,“ erwiderte der
Großwesir, „so scheint es mir unmöglich, dass Euer Majestät in der Sache
anders verfahren oder einen andern Ausspruch darin tun könnte.“

„Merke dir dies Haus wohl,“ sagte der Kalif
weiter, „und führe morgen früh das Kind zu mir, damit es in meiner
Gegenwart dieselbe Angelegenheit wieder entscheide. Melde auch dem Kadi, welcher
den diebischen Kaufmann freigesprochen, dass er sich dabei einfinde und aus dem
Beispiel des Kindes erkenne, was seine Pflicht sei, und dass er sich künftig
bessere. Ferner will ich, dass du dem Ali Kodjah einen Wink geben lässt, er
möge sein Olivengefäß mitbringen, und dass zwei Olivenhändler zu der
Verhandlung mit bestellt werden.“

Der Kalif gab ihm diesen Befehl, indem er seine Runde
fortsetzte, die er denn auch diesmal vollendete, ohne weiter auf etwas der
Betrachtung wertes zu stoßen.

Den folgenden Tag ging der Großwesir Giafar in das Haus,
wo der Kalif Zeuge von dem Spiel der Kinder gewesen war, und verlangte mit dem
Herrn des Hauses zu sprechen. Da dieser eben ausgegangen war, so wies man ihn an
die Frau. Er fragte nun diese, ob sie Kinder habe? Sie antwortete: drei, und
ließ sie alle vor ihn hintreten.

„Meine Kinder,“ fragte sie der Großwesir,
„wer von euch stellte denn gestern Abend, als ihr miteinander spieltet, den
Kadi vor?“

Der größte, welcher zugleich der älteste war,
antwortete, er sei es gewesen, änderte aber dabei die Farbe, da er nicht
wusste, warum diese Frage an ihn geschähe.

„Mein Sohn,“ sagte der Großwesir hierauf zu
ihm, „komm mit mir, der Beherrscher der Gläubigen möchte dich gern sehn
und sprechen.“

Die Mutter geriet in die größte Bestürzung, als sie
sah, dass der Großwesir ihren Sohn mitnehmen wollte, und fragte ihn:
„Herr, verlangt der Beherrscher der Gläubigen etwa darum meinen Sohn, um
mir ihn zu entreißen?“

Der Großwesir beruhigte sie, indem er ihr versprach, dass
sie ihren Sohn spätestens binnen einer Stunde wieder zurückerhalten und dann
bei seiner Rückkehr schon den Grund erfahren würde, warum er hinberufen
worden.

„Wenn dies, Herr, wirklich so ist,“ erwiderte
die Mutter, „so erlaubt mir wenigstens, dass ich ihm zuvor ein besseres
Kleid anziehe, damit er vor dem Beherrscher der Gläubigen auf eine anständige
Art erscheinen kann.“ Zugleich zog sie ihm ohne Säumnis ein dergleichen
Kleid an.

Der Großwesir führte nun das Kind fort und stellte es
dem Kalifen zu derselben Stunde vor, zu welcher er den Ali Kodjah und den
Kaufmann hinbeschieden hatte.

Der Kalif bemerkte, dass das Kind etwas bestürzt war, und
sagte daher, um es auf das, was er von demselben erwartete, vorzubereiten:
„Komm her, mein Sohn, tritt näher. Du warst es also, der gestern Abend den
Streithandel zwischen Ali Kodjah und dem Kaufmann, der ihm sein Gold gestohlen,
entschied? Ich habe dich gesehen, und dir zugehört, und bin sehr zufrieden mit
dir.“

Der Knabe ließ sich nicht aus der Fassung bringen,
sondern antwortete ganz bescheiden, dass er es gewesen sei.

„Mein Sohn,“ fuhr jetzt der Kalif fort,
„ich werde dir heute den wirklichen Ali Kodjah und den wirklichen Kaufmann
zeigen. Komm her und setze dich neben mich.“

Mit diesen Worten fasste der Kalif das Kind bei der Hand,
stieg hinauf und setzte sich auf seinen Thron, und als er das Kind neben sich
gesetzt hatte, fragte er sogleich, wo die Parteien wären. Man ließ sie
vortreten, und nannte sie ihm, während sie sich vor ihm niederwarfen und mit
ihrer Stirn den Teppich berührten, der den Thron überdeckte. Als sie wieder
aufgestanden waren, sagte der Kalif zu ihnen:

„Jetzt trage jeder von euch seine Sache vor. Dies
Kind hier wird euch anhören, und euch Recht sprechen, und sollte es in irgend
einem Punkt etwas verfehlen, so werde ich schon ins Mittel treten.“

Ali Kodjah und der Kaufmann sprachen nacheinander. Als
aber der Kaufmann verlangte, wieder denselben Eidschwur abzulegen, den er schon
einmal vor dem früheren Richter abgelegt hatte, so sagte das Kind, dass es noch
nicht so weit sei, und dass man billiger Weise zuvor das Olivengefäß sehen
müsse.

Bei diesen Worten brachte Ali Kodjah das Gefäß hervor,
setzte es zu den Füßen des Kalifen hin und nahm den Deckel ab. Der Kalif besah
sich die Oliven, nahm eine und kostete sie. Das Gefäß wurde hierauf den
sachverständigen Kaufleuten, die man dazu berufen hatte, zur Untersuchung
übergeben, und diese gaben den Bescheid, dass die Oliven gut und noch von
diesem Jahre wären. Das Kind sagte ihnen, Ali Kodjah versichere, sie seine
bereits vor sieben Jahren hineingelegt worden. Worauf sie dasselbe erwiderten,
was jene Kinder, welche die Rolle sachverständiger Kaufleute gespielt, zur
Antwort gegeben hatten.

Obwohl nun der angeklagte Kaufmann recht wohl einsah, dass
die beiden sachverständigen Kaufleute sein Verdammungsurteil ausgesprochen
hatten, so wollte er doch noch mancherlei zu seiner Rechtfertigung anführen.
Das Kind hütete sich indessen, ihn zum Aufhängen zu verurteilen, sondern sah
den Kalifen an und sagte:

„Dies, Beherrscher der Gläubigen, ist nun kein Spiel
mehr, sondern Euer Majestät kommt es zu, im Ernst zum Tod zu verurteilen, nicht
aber mir, der ich es gestern bloß zum Scherz tat.“

Der Kalif, der nun von der Unredlichkeit des Kaufmanns
völlig überzeugt war, übergab ihn sofort den Gerichtsdienern, um ihn
aufzuhängen. Was denn auch geschah, nachdem er zuvor angezeigt, wohin er die
tausend Goldstücke versteckt hatte, die nun dem Ali Kodjah zurückgegeben
wurden. Der Fürst, der so gerecht und billig dachte, gab jetzt dem Kadi, der
den früheren Urteilsspruch gefällt und jetzt auch zugegen war, einen Wink,
dass er von diesem Kind lernen solle, künftig in seiner Amtsverwaltung genauer
zu verfahren, sodann umarmte er das Kind und entließ es mit einem Beutel von
hundert Goldstücken, den er ihm zum Zeichen seiner Freigebigkeit einhändigen
ließ.