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377. Nacht

Die erste Sorge der Räuber nach dieser Bestrafung war, in
die Grotte hineinzugehen. Sie fanden nahe der Tür die Säcke, welche Kassim
angefangen hatte fort zu tragen, um sie mitzunehmen und seine Maulesel damit zu
beladen, und sie legten dieselben wieder auf ihren vorigen Platz, ohne die
fehlenden zu bemerken, welche Ali Baba zuvor schon weggenommen hatte. Indem sie
nun über diese Erscheinung gemeinschaftliche Beratung und überlegung
anstellten, begriffen sie wohl dies eine, wie Kassim aus der Grotte habe
herauskommen können. Allein, wie er hineingekommen, konnten sie durchaus nicht
begreifen. Es fiel ihnen wohl ein, dass er von oben herunter gestiegen sein
könne. Allein die öffnung, durch welche das Licht einfiel, war so hoch, und
der Gipfel des Felsens von außen so unzugänglich, dass sie einstimmig dies
für etwas unbegreifliches erklärten. Dass er durch die Tür hineingekommen
sein könne, konnten sie nicht glauben, wenn er nicht wenigstens das Geheimnis,
sie zu öffnen, gewusst habe: Doch gerade dies, glaubten sie, besäße niemand
außer ihnen.

Indessen, wie die Sache auch immer gekommen sein mochte,
da es hier darauf ankam, ihre gemeinschaftlichen Reichtümer sicher zu stellen,
so kamen sie überein, die Leiche Kassims in vier Viertelteile zu teilen, und
sie innerhalb der Grotte nicht weit von der Tür, zwei zur Linken und zwei zur
Rechten, hinzuhängen, um jeden, der die Dreistigkeit haben würde, ein
ähnliches Unternehmen zu wagen, davon abzuschrecken, während sie selber sich
es vorbehielten, erst nach Verlauf einiger Zeit, wenn der Verwesungsduft der
Leiche sich gelegt haben würde, in die Felsenhöhle wieder zurückzukehren.
Kaum war dieser Entschluss gefasst, so vollführten sie ihn auch, und da sie
nichts weiter zurückhielt, so verließen sie ihren Zufluchtsort, nachdem sie
ihn wohl erschlossen, bestiegen wieder ihre Pferde, und durchstreiften die Ebene
in der Richtung hin, wo die besuchtesten Karawanenstraßen gingen, um die
Karawanen anzugreifen und ihre gewohnten Räubereien zu treiben.

Unterdessen war Kassims Frau in großer Unruhe, als sie es
stockfinster werden und ihren Mann noch immer nicht wiederkommen sah. Voll
Bekümmernis ging sie zu Ali Baba und sagte ihm: „Lieber Schwager, es wird
euch, denk ich, nicht unbekannt sein, dass euer Bruder Kassim in den Wald
gegangen ist, und zu welchem Zweck. Er ist noch nicht zurück, und doch ist es
bereits tiefe Nacht. Ich fürchte, das ihm irgend ein Unglück zugestoßen sein
mag.“

Ali Baba hatte, dem letzten zwischen ihnen stattgehabten
Gespräch zufolge, die Reise seines Bruders vermutet, und hatte daher
unterlassen, denselben Tag in den Wald zu gehen, um ihm keinen Anlass zu Argwohn
zu geben. Ohne ihr irgend einen Vorwurf zu machen, der sie oder ihren Mann, wenn
er noch lebte, hätte beleidigen können, sagte er zu ihr, sie sollte sich
deshalb nur noch keinen Kummer machen, Kassim habe offenbar es für angemessen
erachtet, erst spät in der Nacht nach der Stadt zurückzukehren.

Kassims Frau glaubte dies gleichfalls, und zwar umso
leichter, da sie überlegte, wie viel ihrem Mann daran liegen müsste, die Sache
geheim zu halten. Sie kehrte also wieder nach Hause zurück, und wartete
geduldig bis um Mitternacht. Aber nach diesem verdoppelte sich ihre Betrübnis,
und wurde für sie umso peinlicher, da sie dieselbe nicht äußern, noch auch
sich durch schreien und Weinen Erleichterung verschaffen konnte, da der Anlass,
wie sie wohl einsah, der Nachbarschaft ein Geheimnis bleiben musste. Nun erst,
wo ihr Fehler nicht mehr wieder gutzumachen war, gereute sie ihre tolle
Neugierde, dass sie aus einem sträflichen Neid in die häuslichen
Angelegenheiten ihres Schwagers und ihrer Schwägerin hatte eindringen wollen.
Sie brachte die Nacht unter Tränen zu, und bei Tagesanbruch lief sie wieder zu
den beiden hin, und meldete ihnen mehr durch Tränen als durch Worte warum sie
zu ihnen komme.

Ali Baba wartete nicht erst, bis seine Schwägerin ihn
bat, dass er hingehen und nachsehen möchte, was aus Kassim geworden sei.
Sondern er machte sich auf der Stelle mit seinen drei Eseln auf, und begab sich
in den Wald, nachdem er ihr zuvor anempfohlen hatte, ihre Betrübnis zu
mäßigen. Als er sich dem Felsen näherte, ohne unterwegs weder seinen Bruder
noch die zehn Maulesel angetroffen zu haben, wunderte er sich über das Blut,
welches dicht am Eingang vergossen war, und nahm dies für eine üble
Vorbedeutung. Er trat dann vor die Tür, sprach die Worte, und sie öffnete
sich. Der traurige Anblick der gevierteilten Leiche seines Bruders überraschte
ihn gleich beim Eintritt. Er schwankte nicht lange über den Entschluss, den er
hier fassen müsse, um ihm, ungeachtet seiner unbrüderlichen Gesinnung, die
letzte Ehre zu erzeigen. In der Höhle fand sich allerlei Zeug, um darin die
vier Teile seines Bruders in zwei verschiedene Ballen zu packen, womit er einen
seiner Esel beladete, und oben darüber Holz, damit es niemand merkte. Die
beiden andern Esel bepackte er unverzüglich mit Säcken voll Gold, und oben
darüber Holz, wie das erste mal, und sobald er fertig war, und der Pforte
befohlen hatte, sich zu schließen, nahm er wieder seinen Weg nach der Stadt
zurück. Doch war er so vorsichtig, Am Eingang des Waldes so lange zu warten,
dass er nicht vor Anbruch der Nacht die Stadt erreichte. Bei seiner Heimkunft
ließ er bloß die zwei mit Gold beladenen Esel in sein Haus eintreten, den
dritten führte er, nachdem er seiner Frau das Geschäft des Abladens
überlassen, und ihr mit wenigen Worten das Schicksal Kassims mitgeteilt hatte,
zu seiner Schwägerin.

Ali Baba klopfte an die Tür, und diese wurde durch eine
gewisse Morgiane geöffnet. Diese Morgiane war eine gewandte, erfahrene und
erfinderische Sklavin, die bei den schwierigsten Angelegenheiten zu gebrauchen
war, und Ali Baba kannte sie als eine solche. Als er daher in den Hof
eingetreten war, und das Holz nebst den beiden Päckchen von den Eseln abgeladen
hatte, nahm er Morgiane bei Seite und sagte zu ihr: „Morgiane, das erste,
was ich jetzt von dir verlange, ist eine unverbrüchliche Verschwiegenheit, du
wirst bald sehen, wie viel deiner Gebieterin und mir daran liegen muss. In
diesen zwei Ballen ist die Leiche deines Herren enthalten. Es kommt nun darauf
an, sie zu beerdigen, als ob er eines natürlichen Todes gestorben wäre. Lass
mich zuerst mit deiner Gebieterin reden, und sei aufmerksam auf das, was ich dir
sagen werde.“

Morgiane meldete es ihrer Gebieterin, und Ali Baba, der
ihr auf dem Fuß folgte, wurde eingelassen.

„Nun, Schwager,“ fragte ihn die Schwägerin voll
Ungeduld, „was für Nachricht bringt ihr mir von meinem Mann? Auf eurem
Gesicht lese ich eben nichts tröstliches.“

„Schwägerin,“ antwortete Ali Baba, „ich
kann euch nichts sagen, bevor ihr mir nicht versprochen habt, mich von Anfang
bis zu Ende anzuhören, ohne den Mund aufzutun. Bei dem, was vorgefallen ist,
muss euch eben so sehr als mir daran liegen, um eurer Ruhe und um eures Wohles
willen die tiefste Verschwiegenheit zu beobachten.“

„Ach,“ rief die Schwägerin halblaut aus,
„diese Einleitung gibt mir zu erkennen, dass mein Mann nicht mehr am Leben
ist. Doch zugleich sehe ich auch die Notwendigkeit jener Verschwiegenheit ein,
die ihr von mir fordert. Ich muss mir denn also freilich Gewalt antun. Sprecht,
ich werde hören.“

Ali Baba erzählte seiner Schwägerin den ganzen Erfolg
seiner Reise bis zu seiner Heimkehr mit der Leiche Kassims.

„Schwägerin,“ fügte er zuletzt hinzu,
„ihr habt nun also freilich hier großen Anlass zur Betrübnis, und zwar
umso mehr, je weniger ihr es erwartet hattet. Diesem Unglück lässt sich nun
nicht mehr abhelfen, doch, wenn irgend etwas euch zu trösten imstande ist, so
mache ich euch den Antrag, durch eine Verheiratung mit mir das wenige Vermögen,
das mir Gott beschert hat, mit dem eurigen zu verbinden, wobei ich euch die
Versicherung gebe, dass meine Frau darüber gar nicht eifersüchtig sein wird,
und dass ihr euch recht gut miteinander vertragen werdet. Gefällt euch mein
Vorschlag, so müssen wir vor allen Dingen darauf denken, so zu tun, als wäre
mein Bruder eines natürlichen Todes gestorben – eine Sache, worin ihr euch, wie
ich denke, auf eure Sklavin Morgiane und mich verlassen könnt.“

Welchen bessern Entschluss konnte Kassims Witwe fassen,
als der war, den Ali Baba vorschlug? Neben dem Vermögen, welches ihr durch den
Tod ihres ersten Mannes zufiel, bekam sie einen zweiten Mann, der reicher war
und noch reicher werden konnte. Sie lehnte also den Antrag gar nicht ab, sondern
betrachtete ihn im Gegenteil als einen sehr vernünftigen Trostgrund. Indem sie
ihre Tränen abtrocknete, welche bereits reichlich zu fließen begonnen hatten,
und indem sie jenem durchdringenden Klagegeschrei, welches Frauen bei dem
Verlust ihrer Männer zu erheben pflegen, Einhalt tat, bewies sie dem Ali Baba
hinlänglich, dass sie sein Anerbieten annähme.

In dieser Stimmung verließ Ali Baba die Witwe Kassims,
und nachdem er Morgiane anempfohlen, ihre Rolle gut zu spielen, kehrte er mit
seinem Esel nach Hause zurück.

Morgiane ging in demselben Augenblick ebenfalls fort und
zu einem benachbarten Apotheker. Sie klopft an den Laden desselben, man öffnet,
sie verlangt eine gewisse Art von Arzneitäfelchen, die in gefährlichen
Krankheiten sehr heilsam sind. Der Apotheker gibt ihr einige für das Geld,
welches sie ihm hingelegt hatte, und fragt sie, wer denn im Haus ihres Herrn
krank sei?

„Ach,“ erwidert sie mit einem tiefen Seufzer,
„es ist Kassim selber, mein guter Herr! Man kann aus seiner Krankheit nicht
klug werden. Er spricht nicht, und mag nichts essen.“

Mit diesen Worten nimmt sie die Arzneitäfelchen fort, von
denen freilich Kassim keinen Gebrauch mehr machen konnte.