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376. Nacht

Bei Kassims Heimkehr sagte seine Frau zu ihm:
„Kassim, du denkst ein reicher Mann zu sein, allein du irrst dich: Ali Baba
ist unendlich reicher als du, er zählt sein Geld nicht etwa wie du, sondern
misst es mit Maßen.“

Kassim verlangte eine Erklärung dieses Rätsels. Sie gab
ihm dieselbe, indem sie ihm erzählte, auf welche geschickte Weise sie diese
Entdeckung gemacht habe, zugleich zeigte sie ihm das Goldstück, das sie unten
am Boden kleben gefunden hatte, und das so alt war, dass der Name des Fürsten,
der darauf geprägt war, ihr gänzlich unbekannt war.

Anstatt an dem Glück, welches seinem Bruder begegnet sein
könne, innigen Anteil zu nehmen, fühlte Kassim einen tödlichen Neid über
dasselbe, und brachte fast die ganze Nacht schlaflos zu. Den folgenden Tag ging
er noch vor Sonnenaufgang zu ihm. Da er seit seiner Verheiratung mit der reichen
Witwe ihn gar nicht mehr als Bruder behandelte, und diesen Namen fast vergessen
zu haben schien, so redete er ihn mit folgenden Worten an:

„Ali Baba, du bist doch recht zurückhaltend in
deinen Angelegenheiten. Du spielst den Armen, den Elenden, den Bettler, und
misst das Gold mit Maßen.“

„Lieber Bruder,“ antwortete Ali Baba, „ich
weiß nicht, wovon du da mit mir sprichst. Erkläre dich näher.“

„Stelle dich nur nicht so ganz unwissend,“
erwiderte Kassim. Mit diesen Worten zeigte er ihm das Goldstück, welches seine
Frau ihm in die Hände gegeben, und fragte: „Wie viel Stücke hast du von
der Art wie dies hier, welches meine Frau unten an dem Maß klebend gefunden
hat, welches die deinige gestern von ihr borgte?“

Aus dieser Rede sah Ali Baba, dass Kassim und dessen Frau
durch den Eigensinn seiner Gattin bereits das erfahren hatte, was er als ein
tiefes Geheimnis bewahren zu müssen geglaubt hatte. Doch der Fehler war einmal
gemacht, und ließ sich nicht wieder gut machen. Ohne seinem Bruder das
geringste Zeichen von Staunen oder Verdruss zu geben, erzählte er ihm, durch
welchen Zufall er den Schlupfwinkel der Räuber entdeckt habe, und an welchem
Ort, und bot ihm, wenn er es recht geheim halten wolle, einen Anteil an diesem
Schatz an.

„Den verlange ich ohnehin,“ antwortete Kassim
mit stolzer Miene. „Allein,“ fuhr er fort, „ich will auch noch
ganz genau wissen, wo dieser Schatz liegt, ferner die näheren Merkmale und
Kennzeichen, und wie ich wohl selber da hinein kommen könnte, wenn ich Lust
hätte. Sonst werde ich dich der Gerichtsbehörde anzeigen. Wenn du mir es
verweigerst, so wirst du nicht nur nichts mehr zu hoffen haben, sondern du wirst
auch das, was du dir genommen hast, verlieren, während ich dafür, dass ich
dich anzeige, meinen Anteil davon bekommen werde.“

Ali Baba gab mehr aus natürlicher Gutmütigkeit, als
durch die übermütigen Drohungen seines grausamen Bruders eingeschüchtert, ihm
vollständige Auskunft über alles, was er wünschte, und selbst über die
Worte, deren er sich bedienen sollte, um in die Felsengrotte hinein und wieder
heraus zu kommen.

Kassim wollte von Ali Baba weiter nichts wissen. Er
verließ ihn, mit dem Entschluss, ihm zuvor zu kommen. In der Hoffnung, sich des
Schatzes allein zu bemächtigen, brach er den folgenden Tag früh vor
Tagesanbruch mit zehn Mauleseln auf, die mit großen Kasten bepackt waren, die
er anzufüllen sich vornahm, mit dem Vorbehalt, bei einer zweiten Reise eine
noch größere Anzahl mitzunehmen, nach Verhältnis der Ladungen, die er in der
Felsenhöhle finden würde. Er schlägt den Weg ein, den Ali Baba bezeichnete,
gelangt bis in die Nähe des Felsens, erkennt die Merkmale und den Baum, auf
welchem Ali Baba versteckt gewesen. Er sucht dann die Tür, findet sie, und
spricht die Worte: Sesam, öffne dich! Die Tür öffnet sich, er tritt hinein,
und sogleich schließt sie sich wieder. Bei Besichtigung der Grotte erstaunt er,
darin weit mehr Reichtümer anzutreffen, als er nach der Erzählung Ali Babas
vermutet hatte, und sein Erstaunen steigt in dem Maße, als er jede Sache
einzeln besieht. Als ein geiziger Mann und Liebhaber von Reichtümern – dies war
er wirklich – hätte er den ganzen Tag damit zugebracht, seine Augen an dem
Anblick dieser Menge Goldes zu weiden, wenn ihm nicht eingefallen wäre, dass er
doch eigentlich gekommen sei, um Gold davon wegzunehmen und auf seine zehn
Maulesel zu laden. Er nimmt daher eine Anzahl von Säcken davon hinweg, so viel
er nur tragen kann, und indem er bis an die Tür kommt, um sie zu öffnen, und
den Kopf voll von anderen Gedanken hat, und anstatt Sesam sagte er: Gerste,
öffne dich! Er wundert sich, als er sieht, dass die Tür, anstatt sich zu
öffnen, verschlossen bleibt, er nennt mehrere andere Namen von Getreidearten,
und die Tür öffnet sich noch immer nicht.

Auf diesen Zufall war Kassim nicht gefasst. In der großen
Gefahr, worin er sich erblickt, ergreift ihn Entsetzen, und je mehr er sich
anstrengt, um sich an das Wort Sesam zu erinnern, desto mehr verwirrt er sein
Gedächtnis, und bald ist dies Wort für ihn ganz so, als ob er es nie hätte
nennen hören. Er wirft die Säcke, mit denen er sich beladen hat, zu Boden, er
geht mit großen Schritten in der Höhle auf und nieder, und alle die
Reichtümer, von denen er sich umgeben sieht, rühren ihn nicht mehr. Doch
lassen wir Kassim sein Schicksal beweinen, er verdient unser Mitleid nicht.

Die Räuber kehrten gegen den Mittag zu ihrer Grotte
zurück. Als sie nicht mehr weit entfernt waren, und die mit Kasten beladenen
Maulesel Kassims um den Felsen her erblickt hatten, so wurden sie wegen dieser
neuen Erscheinung unruhig, sprengten mit verhängtem Zügel heran, und jagten
die zehn Maulesel, welche Kassim anzubinden vergessen hatte, und die frei und
frank weideten, in die Flucht, so dass sie sich dahin und dorthin im Wald
zerstreuten, und ihnen bald aus dem Gesicht entschwanden.

Die Räuber gaben sich nicht die Mühe, den Mauleseln
nachzulaufen. Es lag ihnen mehr daran, denjenigen aufzuspüren, dem sie
gehörten. Während einige um den Felsen herum die Runde machten, um ihn
aufzusuchen, stieg der Hauptmann nebst den übrigen vom Pferd, und ging mit
blankem Säbel gerade auf die Tür los. Er sprach die Worte, und die Tür
öffnete sich.

Kassim, welcher mitten in der Grotte das Rossgetrappel
hörte, zweifelte nicht mehr, dass die Räuber angekommen seien, und dass sein
Untergang vor der Tür sei. Indessen entschlossen, wenigstens einen Versuch zu
machen, um ihren Händen zu entrinnen und sich zu retten, hielt er sich bereit,
hinaus zu stürzen, sobald die Tür sich öffnen würde. Kaum hörte er das Wort
Sesam, das ihm entfallen war, aussprechen und die Tür aufgehen, als er so
ungestüm hinausstürmte, dass er den Räuberhauptmann zu Boden warf. Doch den
anderen Räubern entschlüpfte er nicht, welche ebenfalls die blanken Säbel in
der Hand hielten und ihm auf der Stelle das Leben nahmen.