Project Description

366. Nacht

Als ich nach ihrem Weggang wieder an meine Arbeit ging,
war der erste Gedanke, der mir einfiel, der, dass ich auf einen sichern Ort
denken müsste, wo ich den Beutel aufheben könnte. Ich hatte nämlich in meinem
kleinen, armseligen Häuschen weder einen Kasten noch einen Schrank, der
verschlossen werden konnte, noch irgend einen anderen Ort, wo ich sicher war,
dass er nicht alsbald entdeckt würde, wenn ich ihn dahin versteckte.

Da ich wie andere arme Leute meines Standes die Gewohnheit
hatte, das wenige Geld, das ich besaß, in die Falten meines Turbans zu stecken,
so verließ ich in dieser Verlegenheit meine Arbeit und ging nach Hause, unter
dem Vorwand, meinen Turban wieder etwas in Ordnung zu bringen. Ich nahm meine
Vorsichtsmaßregeln so gut, dass ich, ohne dass meine Frau und Kinder etwas
davon merkten, zehn Goldstücke aus dem Beutel zog, und sie für die
dringendsten Ausgaben bei Seite legte, das übrige aber in die Falten der
Leinwand einhüllte, womit ich meine Kopfbedeckung umwickelte.

Die erste Ausgabe, die ich noch am demselben Tag machte,
bestand darin, dass ich mir einen bedeutenden Vorrat an Hanf einkaufte. Sodann –
da schon seit langer Zeit kein Fleisch auf meinen Tisch gekommen war – ging ich
nach der Fleischbank, und kaufte Fleisch zum Abendessen.

Auf dem Rückweg trug ich mein Fleisch in der Hand, als
plötzlich ein hungriger Hühnergeier, ohne dass ich mich verteidigen konnte,
auf mich herab schoss, und mir es gewiss aus der Hand gerissen haben würde, wenn
ich es nicht sehr fest gehalten hätte. Doch, ach, ich hätte besser getan, es
ihn mir nehmen zu lassen, um nur nicht meinen Geldbeutel einzubüßen. Je mehr
er von meiner Seite Widerstand fand, desto hartnäckiger bestand er darauf, mir
es zu entreißen. Er zog mich herüber und hinüber, während er selber in der
Luft schwebte, ohne seine Beute fahren zu lassen. Unglücklicherweise fiel mir
unter diesen Anstrengungen, die ich machte, mein Turban zu Boden.

Sogleich ließ der Hühnergeier seine Beute fahren,
stürzte auf meinen Turban los, und führte ihn in die Luft empor, noch ehe ich
Zeit hatte, ihn von der Erde aufzuraffen. Ich stieß ein so durchdringendes
Geschrei aus, dass die Männer, Weiber und Kinder der Nachbarschaft darüber
erschraken, und ihr Geschrei mit dem meinen vereinigten, um den Hühnergeier
dadurch zu bewegen, seinen Raub fallen zu lassen.

Es gelingt bisweilen durch dieses Mittel, diese Art von
Raubvögeln zu vermögen, ihre Beute wieder fahren zu lassen. Doch diesmal
schüchterte das Geschrei den Hühnergeier nicht ein, sondern er führte meinen
Turban so weit weg, dass wir ihn aus dem Gesicht verloren, ehe er ihn fallen
ließ. Es würde daher auch ganz fruchtlos gewesen sein, mir noch die Mühe und
Anstrengung zu machen, ihm nachzulaufen, um ihn wiederzubekommen.

Traurig über den Verlust meines Geldes und meines Turbans
kehrte ich nach Hause zurück. Indessen musste ich mir einen anderen kaufen,
wodurch die Summe von zehn Goldstücken, die ich aus dem Beutel genommen,
abermals geschmälert wurde. Ich hatte davon bereits den Einkauf des Hanfes
bestritten, und was mir nun noch übrig blieb, reichte nicht hin, um die
schönen Hoffnungen, die ich gefasst, zu verwirklichen.

Was mich am meisten peinigte, war, dass mein Wohltäter,
wenn er das mir zugestoßene Unglück erfuhr, das ihm vielleicht ganz
unglaublich und folglich als eine leere Entschuldigung erscheinen konnte, sehr
unzufrieden darüber sein musste, dass seine Freigebigkeit so übel angebracht
gewesen.

So lange die wenigen Goldstücke, die mir übrig
geblieben, noch währten, ließen wir, meine kleine Familie und ich, uns davon
wohl sein. Indessen ich geriet sehr bald wieder in dieselbe Lage und in dieselbe
Unmöglichkeit, mich aus meinem Elend herauszureißen, wie zuvor. Gleichwohl
murrte ich nicht darüber. „Gott,“ dachte ich, „hat mich prüfen
wollen, indem er mir zu einer Zeit, wo ich es am wenigsten erwartete, Vermögen
in die Hände gab. Er hat mir es augenblicklich wieder entzogen, weil es ihm so
gefallen und in seiner Macht gestanden hat. Er sei deshalb gelobt, so wie ich
ihn bisher stets für die Wohltaten gepriesen habe, die er mir zu verleihen für
gut fand. Ich unterwerfe mich seinem göttlichen Willen!“

Diese Betrachtungen stellte ich an, während meine Frau,
der ich nicht umhin gekonnt hatte, meinen erlittenen Verlust und die Ursache
desselben mitzuteilen, ganz untröstlich war. Auch war mir in meiner Bestürzung
die äußerung gegen meine Nachbarn entschlüpft, dass ich in meinem Turban
zugleich einen Beutel von 190 Goldstücken verlöre. Da ihnen indessen meine
Armut bekannt war und da sie nicht begreifen konnten, wie ich mir durch meine
Arbeit eine so große Summe Geldes habe verdienen können, so lachten sie bloß
darüber, und die Kinder noch mehr wie sie.

Es waren etwa sechs Monate seit jenem Unglück, welches
mir der Hühnergeier angerichtet hatte, vergangen, als die beiden Freunde nicht
weit von dem Stadtviertel, wo ich wohnte, vorübergingen. Die Nachbarschaft
machte, dass Saad sich meiner erinnerte. Er sagte zu Saadi: „Wir sind hier
nicht weit von der Straße, worin Hassan Alhabbal wohnt. Lass uns durch dieselbe
gehen und zusehen, ob die zweihundert Goldstücke, die du ihm gegeben, etwas
dazu beigetragen haben, ihm den Weg zu einer besseren Lage zu bahnen, als die
war, worin wir ihn trafen.“

„Es ist mir ganz recht,“ antwortete Saadi.
„Schon vor einigen Tagen dachte ich an ihn und freute mich im voraus über
das Vergnügen, welches ich haben würde, dich zum Zeugen des Erfolgs zu machen,
den ich bei meinem Versuch gehabt. Du wirst sehen, dass mit ihm eine große
Veränderung vorgegangen ist, und ich mache mich darauf gefasst, dass wir Mühe
haben werden, ihn wieder zu erkennen.“

Die beiden Freunde hatten in diesem Augenblick, wo Saadi
noch redete, bereits in die Straße eingelenkt. Saad, der mich zuerst und schon
von fern gewahr wurde, sagte zu seinem Freund: „Es kommt mir vor, als
hättest du den Prozess schon sehr zeitig gewonnen. Ich sehe zwar Hassan
Alhabbal, aber ich entdeckte an seiner Person auch nicht die mindeste
Veränderung. Er ist ebenso schlecht gekleidet wie damals, wo wir beide mit ihm
sprechen. Die einzige Veränderung, die ich an ihm bemerkte, besteht darin, dass
sein Turban etwas neuer und reinlicher aussieht. überzeuge dich selber, ob ich
mich irre oder nicht.“

Beim näher Kommen bemerkte Saadi, der mich nun ebenfalls
ins Auge gefasst hatte, recht gut, dass Saad Recht habe, und er wusste nicht,
welcher Ursache er die geringe Veränderung, die er an mir wahrnahm, beimessen
sollte. Er war darüber so sehr erstaunt, dass er kein Wort zu mir sprach. Saad
dagegen begrüßte mich mit dem gewöhnlichen Gruß und sagte dann zu mir:
„Nun, Hassan, wir dürfen wohl nicht erst fragen, wie deine kleinen
Angelegenheiten seit unserm letzten Zusammentreffen gehen. Sie haben ohne
Zweifel einen besseren Gang genommen, und die zweihundert Goldstücke müssen
dazu bedeutend beigetragen haben.“

„Edle Herren,“ antwortete ich, indem ich mich an
alle beide wendete, „zu meinem großen Leidwesen muss ich euch sagen, dass
eure guten Wünsche und Hoffnungen, so wie die meinigen, nicht den Erfolg gehabt
haben, den ihr zu erwarten Ursache hattet, und den ich mir selber davon
versprochen. ihr werdet das seltsame Abenteuer, das mich betroffen, kaum glauben
wollen. Gleichwohl versichere ich euch als rechtlicher Mann, dem ihr trauen
könnt, dass nichts so gewiss wahr ist als das, was ihr sogleich hören werdet.

Ich erzählte ihnen nun mein Abenteuer mit allen den
einzelnen Umständen, die ich soeben Euer Majestät mitzuteilen die Ehre hatte.

Saadi verwarf meine Erzählung ganz und gar.
„Hassan,“ sagte er zu mir, „und willst mich zum Besten halten und
mich hintergehen. Was du da sagst, ist ganz unglaublich. die Hühnergeier machen
nicht auf Turbane Jagd, sie suchen bloß das, was ihren Heißhunger befriedigen
kann. Du hast es indessen gemacht, wie es alle Leute deines Standes zu machen
pflegen. Wenn sie nämlich irgend einen außerordentlichen Gewinn machen, oder
wenn ihnen irgend ein unerwartetes Glück zu Teil wird, so lassen sie ihre
Arbeit, gehen ihrem Vergnügen nach, bewirten einander, und führen einen guten
Tisch, so lange das Geld währt, und wenn sie dann alles verzehrt haben,
befinden sie sich in derselben Not und in derselben Dürftigkeit wie zuvor. Ihr
bleibt bloß darum in eurem Elend stecken, weil ihr es verdient, und weil ihr
euch selber der Wohltaten, die man euch erzeigt, unwürdig macht.“