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360. Nacht

Geschichte
des Sidi Numan

„Beherrscher der Gläubigen,“ fuhr Sidi Numan
fort, „meine Herkunft übergehe ich, denn sie ist nicht so glänzend, dass
sie irgend eine Erwähnung verdiente. Was Glücksgüter betrifft, so hatten
meine Vorfahren durch ihre gute Wirtschaft mir so viel hinterlassen, als ich mir
nur wünschen konnte, um als rechtschaffener Mann ohne Ansprüche und ohne
jemandem zur Last zu fallen, davon leben zu können.

Unter solchen Umständen war das einzige, was ich mir zu
Vollendung meines Glücks noch wünschen konnte, eine liebenswürdige Frau zu
finden, die meine ganze Liebe und Zärtlichkeit hätte, und mich ebenso wahr und
zärtlich wieder liebte. Indessen es hat Gott nicht gefallen, mir eine solche zu
gewähren. Im Gegenteil gab er mir eine, die gleich vom ersten Tag meiner Ehe an
meine Geduld auf solche Proben zu stellen begann, dass nur solche, welche
ähnliche auszustehen gehabt haben, sich einen Begriff davon machen können.

Da unserer Landessitte gemäß alle Heiraten so
abgeschlossen werden, dass man diejenige, welche man heiratet, zuvor weder sieht
noch kennen lernt, so wird Euer Majestät nicht unbekannt sein, dass kein
Ehemann sich eben zu beklagen Ursache hat, wenn seine Anvermählte nur nicht
abschreckend hässlich oder missgestaltet ist, und wenn nur ihre guten Sitten,
ihr Verstand und ihr gutes Benehmen die kleinen Unvollkommenheiten des Körpers,
die sie etwa haben mag, wieder gut macht.

Als ich meine Frau zum ersten Mal mit entschleiertem
Gesicht sah – damals nämlich, als sie nach den gewöhnlichen Zeremonien so eben
in mein Haus gebracht worden war, freute ich mich, dass man mich in der
Schilderung, die man mir von ihrer Schönheit gemacht, nicht getäuscht hatte.
Ich fand sie ganz nach meinem Geschmack und sie gefiel mir.

Den Tag nach unserer Hochzeit trug man uns eine
Mittagsmahlzeit aus mehreren Speisen auf. Ich begab mich in das Zimmer, wo die
Tafel gedeckt war, und da ich meine Frau dort nicht fand, so ließ ich sie
rufen. Nachdem sie mich lange Zeit hatte warten lassen, kam sie endlich. Ich
verbarg meine Ungeduld, und wir setzten uns zu Tisch.

Ich aß zuerst von dem Reis, den ich, wie gewöhnlich, mit
einem Löffel nahm. Meine Frau dagegen, anstatt sich wie andere Leute eines
Löffels zu bedienen, zog aus einem kleinen Besteck, das sie in der Tasche bei
sich trug, eine Art von kleinem Ohrlöffelchen heraus, womit sie anfing Reis
zuzulangen und ihn in einzelnen Körnchen – denn mehr konnte sie nicht darin
fassen – zum Munde zu führen.

über diese Art zu essen erstaunt, sagte ich zu ihr:
„Amine – denn so hieß sie – hast du in deiner Familie den Reis auf diese
Weise essen gelernt? Tust du es etwas darum, weil du keine große Esserin bist,
oder willst du die Körner zählen, um nicht das eine mal mehr als das andere zu
essen? Wenn du bloß aus Sparsamkeit so tust und um mich zu lehren, dass ich
kein Verschwender sein soll, so hast du von dieser Seite nichts zu fürchten,
und ich kann dir versichern, dass wir uns dadurch nie zu Grunde richten werden.
Wir haben, Gott sei Dank, so viel, um davon bequem leben zu können, ohne uns
das Nötige zu versagen. Tue dir also keinen Zwang an, meine teure Amine, und
iss so, wie du mich essen siehst.“

Um der freundlichen Art und Weise willen, womit ich ihr
diese Vorstellung machte, hoffte ich von ihr eine artige Antwort zu erhalten.
Allein, ohne ein Wort zu erwidern, fuhr sie fort, auf diese Art zu essen, und um
mich noch mehr zu ärgern, aß sie von dem Reis nur noch in langen
Zwischenpausen, und anstatt auch von den übrigen Speisen mit mir zu genießen,
begnügte sie sich, von Zeit zu Zeit etwas zerkrümeltes Brot in ihren Mund zu
tun, etwa so viel, als ein Sperling aufgepickt haben würde.

Ihre Hartnäckigkeit ärgerte mich. Indessen, um ihr
Vergnügen zu machen, und sie zu entschuldigen, bildete ich mir ein, sie sei
nicht daran gewöhnt, mit Männern zusammen zu speisen, und noch weniger mit
einem Ehemann, in dessen Gegenwart man sie vielleicht eine Zurückhaltung zu
beobachten gelehrt hatte, die sie aus Einfalt zu weit trieb. Auch glaubte ich,
dass sie vielleicht schon gefrühstückt haben möge, oder wenn sie es noch
nicht getan, dass sie sich noch etwas Esslust übrig ließe, um dann für sich
allein nach Belieben speisen zu können. Diese Betrachtungen hielten mich ab,
ihr irgend etwas weiter zu sagen, das sie hätte abschrecken können, oder ihr
irgend ein Zeichen des Missvergnügens zu geben. Nach dem Mittagsmahl verließ
ich sie ganz ebenso freundlich, als ob sie mir nicht den mindesten Anlass zur
Unzufriedenheit mit ihrem seltsamen Betragen gegeben hätte, und ließ sie
allein.

Beim Abendessen ging es wieder so, und auch den folgenden
Tag, und überhaupt, so oft wir miteinander speisten, betrug sie sich ganz auf
dieselbe Weise. Ich sah wohl, es sei nicht möglich, dass eine Frau mit so wenig
Nahrung, wie sie zu sich nahm, leben könne, und es müsse also dahinter irgend
ein mir unbekanntes Geheimnis stecken. Dies bewog mich denn zu dem Entschluss,
mich zu verstellen. Ich tat demnach, als ob ich auf ihre Handlungen gar nicht
Acht gäbe, in der Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit gewöhnen würde, mit
mir zu leben, wie ich es wünschte. Allein meine Hoffnung war fruchtlos, wie ich
mich sehr bald überzeugen sollte.

In der einen Nacht, wo Amine mich im tiefsten Schlafe
glaubte, stand sie ganz leise auf, und ich bemerkte, dass sie sich mit großer
Behutsamkeit, um kein Geräusch zu machen und mich nicht zu wecken, ankleidete.
Ich konnte gar nicht begreifen, zu welchem Zweck sie sich so in ihrer Ruhe
störte, und die Neugier, zu erfahren, was sie vorhabe, bewog mich, mich fest
schlummernd zu stellen. Sie kleidete sich völlig an und ging darauf ganz leise
aus dem Zimmer.

Sobald sie hinausgegangen war, stand ich auf, und warf mir
ein Kleid um. Durch ein Fenster, welches nach dem Hof hinausging, vermochte ich
wahrzunehmen, dass sie die Tür nach der Straße hin öffnete und hinausging.

Ich eilte sogleich nach der Tür, die sie halb offen
gelassen hatte, und folgte ihr im Mondschein nach, bis ich sie in einen
Begräbnisplatz, der in der Nähe unseres Hauses lag, hineingehen sah. Sogleich
schwang ich mich nun auf eine Mauer, die an den Begräbnisplatz stieß, und
nachdem ich mich gehörig vorgesehen hatte, dass mich niemand bemerken konnte,
erblickte ich Amine mit einer Eule1).

Euer Majestät wird wissen, dass die Eulen beiderlei
Geschlechts böse Geister sind, die auf den Feldern umherschweifen. Sie bewohnen
gewöhnlich altes verfallenes Gemäuer, von wo aus sie die Wanderer überfallen,
sie töten und das Fleisch derselben verzehren. Treffen sie keine Wanderer an,
so begeben sie sich des Nachts auf Begräbnisplätze, wo sie das Fleisch der
Leichen fressen, die sie da auswühlen.

Ich geriet in das größte Entsetzen, als ich meine Frau
mit dieser Eule gehen sah. Sie wühlten eine Leiche auf, die man denselben Tag
beerdigt hatte, und die Eule schnitt zu wiederholten Malen Stücke Fleisch davon
ab, welches sie, auf dem Rand des Grabes sitzend, miteinander verzehrten.
Während sie ein so gräuliches und unmenschliches Mahl einnahmen, unterhielten
sie sich ganz ruhig miteinander. Doch ich war zu weit entfernt, als dass es mir
möglich gewesen wäre, etwas von ihrem Gespräch zu verstehen, welches ebenso
seltsam gewesen sein mag als ihre Mahlzeit, an welche ich noch jetzt nicht ohne
Schauder zurückdenken kann.

Als sie die grässliche Mahlzeit zu sich genommen hatten,
warfen sie die Leiche wieder in das Grab hinein, welches sie mit der
aufgewühlten Erde wieder zufüllten. Ich ließ sie machen, und suchte eilig
mein Haus wieder zu erreichen. Beim Hereintreten ließ ich die Tür nach der
Straße zu halb offen, und nachdem ich mich in mein Schlafzimmer begeben, legte
ich mich wieder nieder und tat, als schliefe ich.

Amine kam bald darauf ganz leise zur Türe herein,
kleidete sich aus und legte sich wieder nieder, voll Freude – wie es mir vorkam
– dass alles so gut abgelaufen war, ohne dass ich etwas bemerkt hatte.


1)
Eulen sind nach dem Glauben der Mohammedaner eine Art von Gespenstern oder
Hexen, und zwar meist immer weiblichen Geschlechts. Eine Eule unterscheidet sich
dadurch von den Vampiren, dass sie sich angeblich vom Fleisch der Leichen
nährt, während die letzteren sich mit dem bloßen aussaugen des Blutes
begnügen.