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355. Nacht

Die Abenteuer des Kalifen Harun Arreschyd

Euer Majestät wird wissen und es vielleicht an sich
selber schon erfahren haben, dass man sich bisweilen in einer so
außerordentlich fröhlichen Gemütsstimmung befindet, dass man sie jedem, der
uns nahe kommt, mitteilt, oder an der seinigen gern teilnimmt. Dagegen fühlt
man sich bisweilen von einer so tiefen Schwermut befallen, dass man sich selber
zur Last ist, und zwar so, dass, wenn man uns nach der Ursache hiervon fragt,
wir sie weder anzugeben noch mit aller aufgewandten Mühe zu entdecken imstande
wären.

In dieser letzt genannten Gemütsstimmung befand sich
einst der Kalif, als Giafar, sein treuer Großwesir, vor ihm erschien. Der
Minister fand ihn ganz allein, was höchst selten vorkam, und da er beim
näher Treten bemerkte, dass er in eine düstere Laune versenkt war und nicht
einmal die Augen aufhub, um ihn anzusehen, so blieb er so lange wartend stehen,
bis er ihn eines Blicks würdigte.

Der Kalif hub endlich die Augen empor und sah Giafar an.
Doch er schlug sie sogleich wieder nieder und blieb in der vorigen Stellung, und
zwar so starr wie zuvor.

Da der Großwesir in den Augen des Kalifen keinen Unwillen
gewahrte, der ihn persönlich anging, so nahm er endlich das Wort und sagte:
„Beherrscher der Gläubigen, erlaubt mir Euer Majestät wohl die Frage,
woher diese Schwermut rührt, die ihr heute blicken lasst, und von der ihr sonst
immer so weit entfernt zu sein scheint?“

„Es ist wahr, Wesir,“ erwiderte der Kalif, indem
er seine Stellung änderte, „dass ich sonst eben nicht dazu geneigt bin,
und wenn du nicht gekommen wärst, so hätte ich meinen gegenwärtigen Trübsinn
gar nicht bemerkt, in welchem ich nun aber auch keinen Augenblick länger
verharren will. Wenn dich nicht etwa etwas besonderes zu mir führt, so wäre
mir es lieb, wenn du irgend etwas erfändest, um mich zu zerstreuen.“

„Beherrscher der Gläubigen,“ antwortete hierauf
der Großwesir Giafar, „bloß meine Pflicht führt mich hierher zu euch,
und ich bin so frei, euch zu erinnern, dass ihr euch selber die Verpflichtung
aufgelegt habt, auf die gute Ordnung in eurer Hauptstadt und deren Umgegend
persönlich ein wachsames Auge zu haben. Heute ist gerade der Tag, den ihr euch
dazu ausgewählt hattet, und es ist dies zugleich die beste Gelegenheit, die
sich euch bietet, um die Wolken, welche eure sonstige Heiterkeit trüben, zu
verscheuchen.“

„Ich hatte es ganz vergessen,“ sagte der Kalif,
„und du erinnerst mich recht zur gelegenen Stunde daran. Geh also, und
kleide dich um, während ich meinerseits dasselbe tun werde.“

Sie legten jeder Kaufmannstracht an, und gingen in dieser
Verkleidung ganz allein miteinander durch eine geheime Gartentür des Palastes,
welche aufs freie Feld hinausging. Sie machten in ziemlich weiter Entfernung von
den Toren die Runde um die Stadt, bis an die Ufer des Euphrats1),
ohne etwas zu bemerken, was gegen die gute Ordnung gewesen wäre. Sie setzten
sodann auf dem ersten Boot, das sie antrafen, über den Strom, machten auch um
die entgegen gesetzte Seite der Stadt die Runde, und nahmen dann ihren Weg über
die Brücke, welche beide Hälften der Stadt in Verbindung setzte.

Bei ihrem Gang über die Brücke trafen sie an deren Ende
einen alten blinden Mann, der sie um ein Almosen ansprach. Der Kalif wendete
sich zu ihm hin, und drückte ihm ein Goldstück in die Hand.

Der Blinde fasste ihn augenblicklich bei der Hand, hielt
ihn an und sagte:

„Mildtätiger Mann, wer ihr auch immer seid, welcher
Gott euch eingegeben hat, mir dies Almosen zu reichen, versagt mir die Gnade
nicht, um die ich euch bitte, dass ihr mir nämlich eine Ohrfeige gebt. Ich habe
sie verdient, ja vielleicht noch eine derbere Züchtigung.“

Bei diesen Worten ließ er die Hand des Kalifen los, um
ihm die Freiheit zu lassen, ihm eine Ohrfeige zu geben. Jedoch fasste er aus
Besorgnis, dass er nicht etwa weitergehen möchte, ohne es zu tun, ihn am Kleid.

Der Kalif, der über die Bitte und das Benehmen des
Blinden ganz erstaunt war, sagte zu ihm: „Guter Mann, ich kann dir deine
Bitte nicht gewähren. Ich werde mich wohl hüten, das Verdienstliche meines
Almosens durch eine so schlechte Behandlung, als du von mir verlangst, wieder
aufzuheben.“ Und mit diesen Worten suchte er sich mit Gewalt von dem
Blinden loszumachen.

Der Blinde, welcher vermöge der Erfahrung, die er seit
langer Zeit über diesen Punkt gemacht, eine Weigerung von Seiten seines
Wohltäters vermutet hatte, wendete eine noch größere Kraft an, um ihn
festzuhalten, und fügte zugleich hinzu: „Herr, vergebt mir meine Kühnheit
und Zudringlichkeit. Gebt mir entweder die Ohrfeige, oder nehmt euer Almosen
wieder zurück. Ich kann es nur unter dieser Bedingung annehmen, sofern ich
nicht einem feierlichen Schwur, den ich zu Gott getan, zuwider handeln soll, und
wenn ihr den Grund davon wüsstet, so würdet ihr mit mir übereinstimmen, dass
diese Strafe sehr gering sei.“

Der Kalif, der sich nicht länger wollte aufhalten lassen,
gab der Zudringlichkeit des Blinden nach, und versetzte ihm eine leichte
Ohrfeige. Der Blinde ließ ihn nun auf der Stelle los, indem er ihm dankte und
ihn segnete. Der Kalif setzte seinen Weg mit dem Großwesir fort. Doch kaum
waren sie einige Schritte weiter gegangen, als er zum Wesir sagte: „Die
Ursache, welche diesen Blinden zu einem solchen Benehmen gegen alle, die ihm ein
Almosen geben, antreibt, muss von sehr wichtiger Art sein. Ich wünsche wohl das
Nähere hierüber zu wissen. Kehre daher rasch um, sage ihm, wer ich bin, und
dass er ja nicht unterlassen soll, morgen um die Zeit des Nachmittagsgebets sich
im Palast einzufinden, weil ich ihn zu sprechen wünsche.“

Der Großwesir ging auf der Stelle zurück, gab dem
Blinden ein Almosen und darauf eine Ohrfeige, und nachdem er den Befehl an ihn
ausgerichtet, eilte er wieder zu dem Kalifen.

Sie kehrten in die Stadt zurück und trafen, als sie über
einen öffentlichen Platz gingen, eine große Menge von Zuschauern, welche einem
jungen und wohl gekleideten Mann zusahen, der auf einer Stute saß, die er mit
verhängtem Zügel um den Platz in die Runde herum trieb und sie ohne Unterlass
mit Sporn und Peitsche so grausam misshandelte, dass sie ganz mit Schaum und
Blut bedeckt war.

Der Kalif, welcher über die Unmenschlichkeit des jungen
Mannes ganz erstaunt war, blieb stehen, um zu fragen, aus welcher Ursache er
denn seine Stute so misshandle, und erfuhr, dass es niemand wisse, dass er es
schon seit längerer Zeit täglich zu derselben Stunde diese grausame übung mit
ihr vornähme.

Sie gingen weiter, und der Kalif sagte dem Großwesir, er
möchte sich diesen Platz merken und ja nicht vergessen, morgen diesen jungen
Mann um dieselbe Stunde wie den Blinden zu ihm zu bestellen.

Ehe noch der Kalif seinen Palast erreicht hatte, erblickte
er in einer Straße, durch die er schon lange nicht gegangen war, ein neu
erstelltes Gebäude, welches ihm das Haus irgend eines Großen des Hofes zu sein
schien. Er fragte den Großwesir, ob er wüsste, wem es gehöre. Dieser
antwortete, er wisse es zwar nicht, werde sich aber danach erkundigen.

Er fragte auch wirklich einen Nachbar, der ihm sagte,
dieses Haus gehöre dem Kodja Hassan, genannt Alhabbal, wegen seines
Seilerhandwerks, das er ihn selber noch in großer Armut treiben gesehen,
indessen sei er – ohne dass man wisse, wie – zu so großen Vermögen gekommen,
dass er die Kosten dieses stattlichen Baues sehr gut aushalten könne.

Der Großwesir eilte jetzt dem Kalifen nach und stattete
ihm von dem, was er erfahren, Bericht ab. „Ich will doch diesen Kodja
Hassan Alhabbal sprechen,“ sagte der Kalif, „geh und sage ihm, dass er
sich morgen um dieselbe Stunde wie die beiden andern in meinem Palast einfinden
solle.“ Der Großwesir unterließ nicht, den Befehl des Kalifen
auszurichten.

Den folgenden Tag nach dem Nachmittagsgebet trat der Kalif
in sein Zimmer, und der Großwesir führte sogleich die drei erwähnten Personen
zu ihm hinein und stellte sie ihm vor.

Sie warfen sich alle drei vor seinem Thron nieder, und als
sie wieder aufgestanden waren, fragte der Kalif den Blinden, wie er denn heiße?

„Ich heiße Baba Abdallah,“ antwortete der
Blinde.

„Baba Abdallah,“ fuhr der Kalif fort,
„deine Art und Weise um ein Almosen zu bitten, erschien mir gestern so
seltsam, dass, wenn mich nicht gewisse Rücksichten zurückgehalten hätten, ich
mich wohl gehütet haben würde, dir diesen Gefallen zu tun, sondern dich
vielmehr von dem Augenblick an gehindert haben würde, der Welt noch fernerhin
ein so anstößiges Benehmen zu zeigen. Ich habe dich deshalb hierher kommen
lassen, um von dir den Grund zu erfahren, warum du einen so unbesonnenen Schwur
getan hast, und erst aus dem, was du mir hierüber mitteilen wirst, werde ich
beurteilen können, ob du daran wohl getan hast, und ob ich dir noch länger ein
Verfahren gestatten kann, was ein so übles Beispiel zu geben scheint. Sage mir
also ohne Hehl, woher dir dieser tolle Einfall gekommen ist. Verschweige mir
nichts, denn ich will es durchaus wissen.“

Baba Abdallah, welcher durch diesen Verweis
eingeschüchtert worden war, warf sich abermals vor den Thron des Kalifen auf
sein Angesicht, und als er wieder aufgestanden, sagte er zu ihm folgendes:
„Beherrscher der Gläubigen, ich bitte Euer Majestät demütigst um
Verzeihung, wegen der Kühnheit, womit ich von euch eine Sache zu verlangen und
zu erzwingen gewagt habe, die mit der gesunden Vernunft zu streiten scheint. Ich
erkenne meine Strafbarkeit. Indessen, da ich damals Euer Majestät doch nicht
kannte, so flehe ich eure Gnade an und hoffe, dass ihr meine Unkunde
berücksichtigen werdet. Was jenes Benehmen betrifft, das ihr als eine Narrheit
zu betrachten geruht, so gestehe ich, dass es wirklich eine ist, und dass mein
Verfahren vor den Augen der Welt als eine solche erscheinen muss. Indessen in
den Augen Gottes ist es eine nur sehr mäßige Buße für eine ungeheure Sünde,
deren ich mich strafbar gemacht, und die ich nicht abbüßen werden, wenn auch
alle Sterblichen einer nach dem andern mir eine Ohrfeige gäben. Euer Majestät
wird selber hierüber urteilen können, wenn ich durch Erzählung meiner
Geschichte euch gezeigt haben werden, worin dieses ungeheure Vergehen
besteht.“


1)
Soll wohl heißen: des Tigris.