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354. Nacht

Wenn Harun Arreschyd auch aufbrausend war, und sich in
seiner übereilung bisweilen zu grausamen Handlungen hinreißen ließ, so war er
dagegen wieder der gerechteste und großmütigste Fürst von der Welt, sobald
sein Zorn vorüber war und man ihn zur Einsicht seiner Ungerechtigkeit gebracht
hatte. Da er nun nicht mehr daran zweifeln konnte, dass er Ganem und seine
Familie ungerechter Weise verfolgt, und sie öffentlich misshandelt habe,
beschloss er, ihnen eine öffentliche Genugtuung zu geben. „Ich freue
mich,“ sagte er zu Herzenspein, „über den glücklichen Erfolg deiner
Nachforschungen. Zwar freut es mich weniger um deinet- als um meinetwillen. Ich
werde das Versprechen, das ich dir getan, halten. Du sollst Ganem heiraten, und
ich erkläre hiermit, dass du von nun an nicht mehr meine Sklavin, sondern ganz
frei bist. Geh jetzt wieder zu dem jungen Kaufmann, und sobald seine Gesundheit
wieder hergestellt sein wird, kannst du ihn nebst seiner Mutter und Schwester zu
mir führen.“

Den folgenden Morgen früh unterließ Herzenspein nicht,
sich zu dem Vorsteher der Juweliere hinzubegeben, voll Ungeduld, sich nachdem
Gesundheitszustand Ganems zu erkundigen, und der Mutter und Schwester die guten
Nachrichten, die sie ihnen zu melden hatte, mitzuteilen. Der erste, der ihr
begegnete, war der Vorsteher, der ihr erzählte, Ganem habe die Nacht sehr gut
zugebracht, und da seine Krankheit bloß aus Schwermut entstanden sei, so würde
er, wenn die Ursache gehoben, sehr bald wieder geheilt sein.

In der Tat befand sich der Sohn Abu Aïbus um vieles
besser. Die Ruhe und die wirksamen Heilmittel, die er zu sich genommen, und mehr
als dies alles, seine gegenwärtige Gemütsstimmung, hatten eine so gute Wirkung
hervorgebracht, dass der Vorsteher meinte, er könne jetzt ohne Gefahr seine
Mutter, Schwester und Geliebte sehen, sofern man ihn nur auf ihren Empfang
vorbereitete, denn sonst, wenn er noch nicht wüsste, dass seine Mutter und
Schwester in Bagdad seien, müsse man fürchten, dass ihr Anblick ihm eine zu
große Freude und überraschung verursachen könnte. Es wurde daher beschlossen,
dass zuerst Herzenspein ganz allein in Ganems Zimmer treten und sodann, wenn es
Zeit wäre, den beiden andern Frauen das Zeichen zum Eintritt geben sollte.

Nachdem alles so angeordnet war, wurde Herzenspein durch
den Vorsteher dem Kranken angemeldet, welcher so sehr über ihr Wiedersehen
erfreut war, dass wenig fehlte, dass er nicht abermals ohnmächtig wurde.
„Nun, Ganem,“ sagte sie zu ihm, indem sie sich seinem Bett näherte,
„da hast du deine Herzenspein wieder, die du für immer verloren zu haben
glaubtest.“ – „Ach, gnädige Frau,“ unterbrach er sie hastig,
„durch welches Wunder kommt ihr vor meine Augen! Ich glaubte, ihr wärt im
Palast des Kalifen. Ganz gewiss hat dieser Fürst euch Gehör gegeben, ihr habt
seinen Argwohn verscheucht, und er hat euch seine Liebe wiedergeschenkt.“ –
„Ja, mein teurer Ganem,“ erwiderte Herzenspein, „ich habe mich in
den Augen des Beherrschers der Gläubigen gerechtfertigt, welcher nun, um die
Leiden, die er euch verursacht hat, wieder gut zu machen, mich euch zur Gemahlin
gibt.“ Diese letzten Worte erregten bei Ganem eine so lebhafte Freude, dass
er durch nichts darauf zu antworten wusste, als durch jenes beredete Schweigen
der Liebenden. Endlich unterbrach er dasselbe und rief: „Ach, schöne
Herzenspein, kann ich eurer Rede Glauben beimessen? Darf ich wirklich glauben,
dass der Kalif euch dem Sohn Abu Aïbus überlässt.“ – „Nichts ist
gewisser als dies,“ erwiderte die Schöne. „Dieser Fürst, der euch
vor Kurzem noch aufsuchen ließ, um euch das Leben zu nehmen, und der in seiner
Wut eurer Mutter und Schwester tausend Beschimpfungen zufügen ließ, wünscht
euch jetzt zu sehen, um euch für die Ehrerbietung, die ihr gegen ihn bewiesen,
zu belohnen, und es ist unzweifelhaft, dass er eure ganze Familie mit Wohltaten
überhäufen wird.“

Ganem fragte, wie denn der Kalif seine Mutter und
Schwester habe behandeln lassen. Herzenspein erzählte es ihm. Er konnte diese
Erzählung nicht ohne Tränen anhören, ungeachtet der frohen Stimmung, worin
ihn die Nachricht von seiner Vermählung mit seiner Geliebten versetzt hatte.
Doch, als Herzenspein ihm sagte, sie wären gegenwärtig zu Bagdad, und zwar in
einem und demselben Hause mit ihm, so schien seine Sehnsucht, sie zu sehen, so
groß, dass die Favoritin sie unverzüglich befriedigen zu müssen glaubte. Sie
rief sie also. Diese standen bereits an der Tür und warteten bloß auf diesen
Wink. Sie traten nun hinein, gingen auf Ganem zu, umarmten ihn nacheinander und
küssten ihn wiederholt. Wie viel Tränen flossen bei dieser Umarmung! Ganems
Gesicht war ganz davon überströmt, ebenso auch das seiner Mutter und
Schwester. Auch Herzenspein vergoss viele Tränen. Selbst der Vorsteher und
seine Frau, welche dies Schauspiel tief rührte, konnten ihre Tränen nicht
zurückhalten, noch auch müde werden, die geheimen Wege der Vorsehung zu
bewundern, welche in ihrem Haus vier Personen zusammengeführt, die das
Schicksal so grausam getrennt hatte.

Nachdem sie alle ihre Tränen abgetrocknet hatten,
entlockte ihnen Ganem von neuem welche, indem er ihnen alles erzählte, was er
von jenem Tag, an welchem er Herzenspein verlassen, bis zu dem Augenblick, wo
ihn der Vorsteher in sein Haus aufnahm, gelitten hatte. Er sagte ihnen nämlich,
wie er sich in ein nahes Dorf geflüchtet habe, wie er da krank geworden sei,
wie er endlich, da es mit ihm besser geworden, einen Kameltreiber gebeten habe,
ihn ins Hospital nach Bagdad zu führen. Herzenspein erzählte ihnen ebenfalls
die Unannehmlichkeiten ihrer Gefangenschaft, wie der Kalif sie im Turm habe
reden gehört, sie sodann in sein Kabinett habe rufen lassen, und wodurch sie
sich bei ihm gerechtfertigt habe. Endlich nachdem sie sich einander ihre
Begebnisse mitgeteilt hatten, sagte Herzenspein: „Lasst uns den Himmel
segnen, der uns alle vereinigt hat, und lasst uns jetzt nur noch an das Glück
denken, das uns erwartet. Sobald die Gesundheit Ganems wieder hergestellt sein
wird, wird er nebst seiner Mutter und Schwester vor dem Kalifen erscheinen
müssen. Da sie indessen nicht in dem Zustand sind, um sich zeigen zu können,
so will ich jetzt die nötigen Vorkehrungen deshalb treffen. Ich bitte euch,
bloß einen einzigen Augenblick zu warten.“

Mit diesen Worten ging sie fort und nach dem Palast, und
kehrte bald darauf in das Haus des Vorstehers mit einem Beutel von tausend
Goldstücken zurück. Sie gab diesen dem Vorsteher, mit der Bitte, für
Herzensmacht und ihre Mutter Kleider zu kaufen. Der Vorsteher, der ein Mann von
Geschmack war, wählte sehr schöne aus und ließ sie schnell zurecht machen.
Nach Verlauf von drei Tagen waren sie fertig, und da Ganem sich zum Ausgehen
stark genug fühlte, so schickte er sich dazu an. Doch an demselben Tag, wo er
dem Kalifen seine Aufwartung machen wollte, und sich nebst seiner Mutter und
Herzensmacht bereits dazu anschickte, sah man den Großwesir Giafar in das Haus
des Vorstehers herein treten.

Dieser Minister, welcher zu Pferd und mit einem
zahlreichen Gefolge angekommen war, sagte beim Eintreten zu Ganem: „Herr,
ich komme hier im Namen des Beherrschers der Gläubigen, meines und eures Herrn.
Der Auftrag, den ich habe, ist sehr verschieden von jenem, dessen Andenken ich
bei euch nicht erst erneuern will: Ich soll euch nämlich begleiten und dem
Kalifen vorstellen, der euch zu sehen wünscht.“ Ganem antwortete auf diese
Anrede des Großwesirs bloß durch eine tiefe Verneigung, und bestieg ein Pferd
aus dem Marstall des Kalifen, das man ihm anbot, und das er mit vielem Anstand
lenkte. Mutter und Tochter mussten Mauleselinnen besteigen, und während
Herzenspein, die ebenfalls eine Mauleselin bestieg, sie durch einen Nebenweg zu
dem Fürsten führte, führte Giafar den Ganem auf einem andern Weg bis in den
Empfangsaal hinein. Der Kalif saß darin auf einem Thron, umgeben von den
Emiren, Wesiren, dem Oberhaupt der Trabanten, und andern Hofleuten aus Arabien,
Persien, ägypten, Afrika, Syrien und seinen übrigen Besitzungen, der Fremden
zu geschwiegen.

Als der Großwesir den Ganem bis an den Fuß des Thrones
geführt hatte, warf sich dieser junge Kaufmann mit dem Angesicht zur Erde,
stand dann wieder auf und dichtete aus dem Stehgreif eine schöne Anrede in
Versen, die ihm den Beifall des ganzen Hofes verschaffte. Nach dieser Anrede
ließ der Kalif ihn näher treten und sagte zu ihm: „Es freut mich, dich zu
sehen und aus deinem Mund zu erfahren, wo du meine Favoritin gefunden und was du
alles für sie getan hast.“ Ganem gehorchte und zwar auf eine so offene und
unbefangene Weise, dass der Kalif von seiner Aufrichtigkeit überzeugt wurde.
Der Fürst ließ ihm hierauf ein sehr reiches Kleid geben, wie es Sitte ist,
allen denen zu reichen, die der Landesfürst bei sich empfängt, und sagte
sodann zu ihm: „Ganem, ich will, dass du an meinem Hofe bleibst.“ –
„Beherrscher der Gläubigen,“ erwiderte der junge Kaufmann, „ein
Sklave hat keinen andern Willen, als den seines Herrn, von welchem sein Gut und
Leben abhängt.“ Der Kalif war durch Ganems Antwort sehr befriedigt, und
wies ihm einen sehr bedeutendes Jahresgehalt an. Sodann stieg er vom Thron,
winkte dem Großwesir und Ganem, ihm ganz allein zu folgen, und trat so in sein
Zimmer.

Da er nicht zweifelte, Herzenspein nebst der Witwe und
Tochter des Abu Aïbu würde wohl ebenfalls in der Nähe sein, so ließ er
dieselben vor sich kommen. Sie warfen sich vor ihm nieder. Er hieß sie
aufstehen und fand Herzensmacht so schön, dass er, nachdem er sie aufmerksam
betrachtet hatte, zu ihr sagte: „Es tut mir so leid, eine so
liebenswürdige Person so unwürdig behandelt zu haben, dass ich dir eine
Genugtuung schuldig zu sein glaube, welche die angetane Beleidigung weit
überwiegt. Ich mache dich zu meiner Gemahlin, und dies mag zugleich die Strafe
Sobeïdes sein, welche somit die Urheberin deines Glückes wird, so wie sie der
erste Anlass deiner erlittenen Leiden gewesen ist. Doch das ist noch nicht
genug,“ fuhr er zu Ganems Mutter sich wendend fort. „Ihr, oh Frau,
seid noch jung, und ich glaube, dass ihr eine eheliche Verbindung mit meinem Großwesir
nicht verschmähen werdet. Ich gebe euch Giafar zum Gemahl, und euch,
Herzenspein, den Ganem. Man lasse einen Kadi und Zeugen kommen, damit die drei
Eheverträge augenblicklich entworfen und unterzeichnet werden können.“
Ganem wollte dem Kalifen vorstellen, dass seine Schwester sich schon genug
geehrt fühlen würde, wenn er sie unter die Zahl seiner Favoritinnen aufnähme,
doch der Fürst wollte Herzensmacht durchaus heiraten.

Er fand übrigens diese Geschichte so außerordentlich,
dass er einem berühmten Geschichtsschreiber Befehl gab, sie umständlich
aufzusetzen. Sie wurde in seine Schatzkammer niedergelegt, von wo aus sie
hernach durch mehrere Abschriften der Welt bekannt geworden ist.

Als Scheherasade die Geschichte Ganems, des Sohnes des Abu
Aïbu, zu Ende erzählt hatte, bezeigte ihr der Sultan von Indien, dass sie ihm
viel Vergnügen gemacht habe. „Herr,“ sagte hierauf die Sultanin,
„da diese Geschichte euch Unterhaltung gewährt hat, so bitte ich
untertänigst Euere Majestät, auch noch die von den Abenteuern Harun Arreschyds
gnädigst anzuhören. Sie wird euch nicht minder befriedigen.“

Schachriar genehmigte es, doch da der Tag bereits
anzubrechen begann, so verschob man es bis auf die folgende Nacht. die Sultanin
begann sodann folgendermaßen: