Project Description

352. Nacht

Obwohl die Sklavin noch nie den König Sinebi gesehen
hatte, so schloss sie doch aus seinem zahlreichen Gefolge, dass er einer der
angesehensten Großen von Damask sein müsse. „Herr,“ erwiderte sie
ihm, „dieser Ganem, den ihr sucht, ist tot. Meine Gebieterin, seine Mutter,
befindet sich dort in jenem Grabmal, wo sie soeben seinen Verlust beweint.“
Der König ließ nun, ohne sich an den Bericht der Sklavin zu kehren, durch
seine Leibwache eine genaue Nachforschung nach Ganem in allen Winkeln des Hauses
anstellen. Endlich näherte er sich dem Grabmal, worin er Mutter und Tochter auf
einem einfachen Teppich in Tränen schwimmend neben der Figur, welche Ganem
vorstellte, sitzen sah. Die beiden armen Frauen bedeckten sogleich ihr Gesicht
mit dem Schleier, als sie einen Mann an die Tür der Grabkapelle treten sahen.
Doch die Mutter, welche den König von Damask erkannte, stand auf und warf sich
ihm zu Füßen. „Gute Frau,“ sagte der Fürst zu ihr, „ich suche
eigentlich euren Sohn Ganem. Ist er hier?“ – „Ach, Herr,“ rief
sie aus, „der ist längst nicht mehr am Leben. Wollte Gott, dass ich ihn
mit meinen eigenen Händen bestattet und den Trost hätte, seine Gebeine in
diesem Grabmal zu haben. Ach, mein Sohn, mein teurer Sohn!…“ Sie wollte
weiter sprechen, wurde aber von einem so heftigen Schmerz ergriffen, dass sie es
nicht vermochte.

Sinebi wurde davon gerührt. Er war ein Fürst von sanfter
Gemütsart und voll Mitleid gegen die Leiden Unglücklicher. „Wenn Ganem
allein der Schuldige ist,“ sprach er bei sich selbst, „warum sollen da
erst seine Mutter und Schwester bestraft werden, die doch ganz unschuldig sind?
Ach, grausamer Harun Arreschyd, in welche äußerste Verlegenheit versetzest du
mich, indem du mich zum Werkzeuge deiner Rache machst und mich zwingst, Personen
zu verfolgen, die dir nichts zu Leide getan haben!“

Die Leibwache, welcher der König die Aufsuchung Ganems
aufgetragen hatte, meldete ihm, dass ihr Nachforschen vergebens gewesen sei. Er
glaubte es auch, denn die Trauer der beiden Frauen ließ ihm keinen Zweifel mehr
übrig. Er war nun voll Verzweiflung, als er sich in der Notwendigkeit sah, die
Befehle des Kalifen zu vollziehen. Doch, wie groß auch sein Mitleiden war, so
wagte er doch nicht den Zorn Haruns zu hintergehen. „Gute Frau,“ sagte
er zu Ganems Mutter, „geht mit eurer Tochter aus dieser Grabkapelle, denn
ihr seid hier nicht mehr sicher.“ Sie gingen heraus, und um sie vor Misshandlungen
zu schützen, nahm er sein weites Oberkleid ab, deckte es über sie beide, und
befahl ihnen, sich nicht von seiner Seite zu entfernen. Als diese geschehen war,
befahl er den Pöbel hereinzulassen, um die Plünderung anzufangen, welche denn
auch mit solcher Gier und mit einem solchen Geschrei vollzogen wurde, dass die
Mutter und die Schwester Ganems, welche die Ursache nicht wussten,
außerordentlich darüber erschraken. Man schleppte die kostbarsten Geräte,
reich gefüllte Kasten, persische und indische Teppiche, Ruhepolster, mit Gold-
und Silberstoff besetzt, Porzellangefäße, kurz alles fort, und ließ bloß die
Mauern des Hauses stehen. Für die beiden unglücklichen Frauen war es ein
höchst betrübendes Schauspiel, all ihr Hab und Gut plündern zu sehen, ohne zu
wissen, wodurch sie diese grausame Behandlung verdient hätten.

Nach geschehener Plünderung des Hauses gab Mohammed dem
Polizeirichter Befehl, dasselbe nebst dem Grabmal niederreißen zu lassen, und
während man damit beschäftigt war, führte er Herzensmacht nebst ihrer Mutter
in seinen Palast. Hier verdoppelte er ihre Betrübnis, indem er ihnen den Willen
des Kalifen kund tat. „Er will,“ sprach er zu ihnen, „dass ich
euch entkleiden und euch drei Tage lang nackt den Augen des Volkes bloßstellen
lasse. Nur mit dem größten Widerwillen lasse ich diesen grausamen und
schimpflichen Befehl vollziehen.“ Der König sagte dies in einem Ton, der
genug verriet, wie sehr er von Schmerz und Mitleid durchdrungen war. Obwohl die
Furcht, seinen Thron zu verlieren, ihn den Regungen seines Gefühls zu folgen
hinderte, so milderte er doch die Strenge der Befehle Harun Arreschyds
einigermaßen dadurch, dass er für Ganems Mutter und für Herzensmacht weite
Hemden ohne ärmel von groben Stoff aus Pferdehaaren machen ließ.

Den folgenden Tag wurden diese beiden Opfer des Zornes des
Kalifen entkleidet und man zog ihnen die härenen Hemden an. Auch nahm man ihren
Kopfschmuck ab, so dass ihre Haare zerstreut um die Schultern flatterten,
Herzensmacht hatte Haare vom schönsten blond, die bis auf die Erde herab
wallten. In diesem Aufzug zeigte man sie beide dem Volk. Der Polizeirichter mit
allen seinen Leuten begleitete sie, und so führte man sie durch die Stadt. Vor
ihnen her ging ein Ausrufer, der von Zeit zu Zeit mit lauter Stimme ausrief:
„Dies ist die Züchtigung derer, welche sich den Zorn des Beherrschers der
Gläubigen zugezogen haben!“

Während sie nun so, an Armen und Füßen entblößt, in
einer so seltsamen Kleidung, und ihre Beschämung hinter ihrem fliegenden Haar,
womit sie sich das Gesicht verdeckten, zu verbergen suchend, durch die Straßen
von Damask zogen, brach alles Volk in Tränen aus.

Besonders die Frauen, welche durch ihre Gitterfenster auf
die beiden Unschuldigen herabsahen, und von der
Schönheit und Jugend der liebenswürdigen Herzensmacht gerührt wurden, ließen
laut ihre Wehklage erschallen, indem sie unter ihren Fenstern vorüber zogen.
Selbst die kleinen Kinder, durch dies Geschrei und diesen Anblick erschreckt,
ließen ihr Weinen in diese allgemeine Betrübnis hinein ertönen, und machten
sie noch grässlicher. Mit einem Wort, selbst wenn die Feinde in Damask
eingedrungen wären, und die ganze Stadt mit Feuer und Schwert verwüstet
hätten, die Bestürzung hätte nicht größer sein können.

Es war beinahe Nacht geworden, als diese grauenvolle Szene
endigte, und man führte nun die Mutter und die Tochter in den Palast Mohammeds
zurück. Da sie nicht daran gewöhnt waren, barfuss zu gehen, so fühlten sie
sich bei ihrer Ankunft dort so ermüdet, dass sie in Ohnmacht fielen, und eine
Weile darin verblieben. Die Königin von Damask, welche von ihrem Unglück
lebhaft gerührt war, schickte ungeachtet des Verbotes, welches Harun Arreschyd
getan, einige Frauen an sie ab, um sie zu trösten, nebst Wein und allerlei
Erfrischungen zu ihrer Stärkung.

Die Frauen der Königin trafen sie noch in Ohnmacht
liegend und fast außer Stande, von ihrem Beistande Gebrauch zu machen. Indessen
durch Anwendung der sorgfältigsten Mittel brachte man sie wieder zum Leben, und
Ganems Mutter dankte ihnen nun für ihre Gefälligkeit. „Meine gute
Frau,“ sagte eine von den Frauen der Königin zu ihr, „wir fühlen nur
zu sehr euer Leiden, und die Königin von Syrien, unsere Gebieterin, hat uns
durch den Auftrag, euch beizustehen, viel Vergnügen gemacht. Wir können euch
beizustehen, viel Vergnügen gemacht. Wir können euch zugleich versichern, dass
diese Fürstin, so wie der König, ihr Gemahl, vielen Anteil an euren Leiden
nimmt.“ Die Mutter Ganems bat die Frauen der Königin, ihrer Fürstin in
ihrem und ihrer Tochter Namen tausendfachen Dank abzustatten, und sagte dann zu
derjenigen, welche soeben gesprochen hatte: „Edle Frau, der König hat mir
nicht gesagt, warum der Beherrscher der Gläubigen uns diesen Schimpf antun
lässt. Ich bitte euch daher, mir anzuzeigen, welches Verbrechen wir begangen
haben.“ – „Gute Frau,“ erwiderte die Kammerfrau der Königin,
„euer Unglück ist durch Ganem veranlasst. Er ist nicht tot, wie ihr es
geglaubt. Sondern er ist angeklagt, die liebste Favoritin des Kalifen verführt
zu haben, und da er sich durch eine schnelle Flucht dem Zorn dieses Fürsten
entzogen hat, so ist die Strafe auf euch gefallen. jedermann verwünscht das
Rachgefühl des Kalifen, doch jeder fürchtet ihn auch, und ihr seht, dass
selbst der König Sinebi seinen Befehlen nicht entgegen zu handeln wagt, aus
Furcht, ihm zu missfallen. Alles, was wir also tun können, ist, euch zu
beklagen und euch zur Geduld zu ermahnen.“

„Ich kenne meinen Sohn,“ erwiderte Ganems
Mutter. „Ich habe ihn sehr sorgfältig und in jener Ehrerbietung gegen den
Beherrscher der Gläubigen erzogen, welche diesem zukommt. Er hat das
Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, gewiss nicht begangen, und ich verbürge
mich für seine Unschuld. Ich höre jetzt indessen auf zu murren und mich zu
beklagen, da ich für ihn leide, und da er also nicht tot ist. Ach, Ganem,“
fuhr sie in einer frohen und zärtlichen Herzensbewegung fort, „mein
geliebter Sohn Ganem, ist es möglich, dass du noch lebst? Ich bedaure jetzt
nicht mehr den Verlust meines Vermögens, und wie weit auch immer die Befehle
des Kalifen gehen mögen, ich verzeihe ihm seine Strenge, sofern nur der Himmel
meinen Sohn erhalten hat. Bloß meine Tochter tut mir leid. Ihre Leiden sind
mein einziger Schmerz. Indessen halte ich sie für eine zu gute Schwester, als
dass sie nicht meinem Beispiel folgen sollte.“

Bei diesen Worten wendete sich Herzensmacht, die bisher
ganz gleichgültig geschienen hatte, zu ihrer Mutter, umschlang mit ihren Armen
ihren Hals und sagte zu ihr: „Ja, meine teure Mutter, ich werde stets
deinem Beispiel folgen, wie weit dich auch immer deine Liebe zu meinem Bruder
treiben mag.“

Mutter und Tochter vereinigten auf diese Weise ihre
Seufzer und ihre Tränen, und blieben eine lange Weile einander in den Armen
liegen. Unterdessen boten die Frauen der Königin, von diesem Schauspiel
gerührt, alles auf, um die Mutter Ganems zu bewegen, einige Nahrungsmittel zu
sich zu nehmen. Um ihnen zu willfahren, aß sie etwas, eben so Herzensmacht.

Da der Befehl des Kalifen es so mit sich brachte, dass die
Angehörigen Ganems drei Tage nacheinander in dem erwähnten Aufzug dem Volk
gezeigt werden sollten, so musste Herzensmacht nebst ihrer Mutter den folgenden
Tag zum andern Mal von früh bis Abend zur Schau stehen. Doch diesen und den
folgenden Tag ging es nicht so wie früher. Die Straßen, welche anfangs mit
Menschen angefüllt gewesen waren, wurden leer und öde. Alle Kaufleute
schlossen im Unwillen über die Behandlung, welche man der Witwe und Tochter Abu
A