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351. Nacht

An dem letzten Tag des Monats dauerten die Gebete und
Vorlesungen aus dem Koran von früh an bis zum Anbruch des folgenden Tages, und
nachdem alles geendigt war, ging jeder nach Hause. Harun Arreschyd, der von
einem so langen Nachtwachen sehr ermüdet war, ging in sein Zimmer, um
auszuruhen, und schlummerte au feinem Sofa zwischen zwei Frauen seines Palastes
ein, wovon die eine ihm zu Haupt, die andere ihm zu Füßen saß, und die beide
während seines Schlummers sich mit Stickerei beschäftigten, und ein tiefes
Schweigen beobachteten.

Die, welche zu Haupt saß und Morgendämmerung1)
hieß, sagte, als sie den Kalifen einschlafen sah, zu der andern:
„Morgenstern2),
– denn so hieß diese – es gibt etwas Neues. Der Beherrscher der Gläubigen,
unser Herr und Gebieter, wird bei seinem Erwachen eine große Freude empfinden,
wenn er erfahren wird, was ich ihm zu sagen habe. Herzenspein ist nicht tot. Sie
ist frisch und gesund.“ – „O Himmel,“ rief Morgenstern voll
Entzücken aus, „sollte es möglich sein, dass die schöne, reizende und
unvergleichliche Herzenspein noch auf der Welt wäre?“ Morgenstern sprach
diese Worte mit einer so lebhaften und so lauten Stimme, dass der Kalif
erwachte. Er fragte, warum man ihn im Schlaf gestört habe. „Ach,
Herr,“ erwiderte Morgenstern, „verzeiht mir diese Unbedachtsamkeit.
Ich konnte nicht mit Ruhe die Nachricht anhören, dass Herzenspein noch lebe.
Ich wurde von solchem Entzücken hingerissen, dass ich mich nicht halten
konnte.“ – „Nun, was ist denn aus ihr geworden,“ sagte der Kalif,
„wenn es wahr ist, dass sie nicht tot ist?“ – „Beherrscher der
Gläubigen,“ antwortete Morgendämmerung, „ich habe diesen Abend durch
einen Unbekannten einen Brief ohne Unterschrift, doch von Herzenspeins eigener
Hand geschrieben, erhalten, worin sie mir ihr trauriges Abenteuer meldet, und
mir aufträgt, euch davon zu unterrichten. Bevor ich mich meines Auftrags
entledige, wollte ich bloß warten, bis ihr einige Ruhe genossen hättet, deren
ihr nach einer solchen Anstrengung sehr zu bedürfen schienet, und …“ –
„Gib mir diesen Brief her,“ unterbrach sie hastig der Kalif, „du
hast nicht gut getan, dass du die Abgabe desselben aufschobst.“

Morgendämmerung überreichte ihm sogleich den Brief. Er
öffnete ihn voll Ungeduld. Herzenspein gab hier einen ausführlichen Bericht
von allem, was vorgefallen war, aber sie ließ sich etwas zu sehr über die
zuvorkommende Sorgfalt aus, welche Ganem gegen sie gezeigt hatte. Der Kalif, der
von Natur eifersüchtig war, wurde, anstatt von der Grausamkeit Sobe