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35. Nacht

Dinarsade unterließ in der folgenden Nacht
nicht, ihre Schwester aufzufordern, die wundersame Geschichte fortzusetzen, die
sie angefangen hatte.

Scheherasade nahm darauf das Wort, und sich
an den Sultan wendend, sprach sie: „Herr, mit eurer Erlaubnis, will ich die
Neugier meiner Schwester befriedigen.“

Zugleich nahm sie die Geschichte der drei
Kalender1)
wieder auf:

„Sobeïde wollte also das Geld von dem
Träger nicht wiedernehmen. „Aber, mein Freund,“ sagte sie, zu ihm,
„wenn wir bewilligen, dass ihr bei uns bleibt, so kündige ich euch an,
dass es nicht bloß unter der Bedingung geschieht, verschwiegen zu sein, wie wir
von euch gefordert haben, wir bedingen auch noch, dass ihr genau die Regeln der
Wohlanständigkeit und Ehrerbietigkeit beobachtet.“

Während sie also sprach, legte die reizende
Amine ihr Staatskleid ab, schürzte ihren Rock mit dem Gürtel, um sich freier
bewegen zu können, und bereitete den Tisch; sie trug mehrere Gerichte auf, und
besetzte einen Schanktisch mit Weinflaschen und goldnen Schalen. Danach setzten
sich die Frauen, und ließen den Träger neben ihnen sitzen, der über alle
Beschreibung glücklich war, sich mit drei Personen von so außerordentlicher
Schönheit am Tisch zu sehen.

Nach dem ersten Bissen nahm Amine, die sich
zu dem Schanktische gesetzt hatte, eine Flasche und eine Schale, schenkte sich
ein, und trank zuerst, nach Gewohnheit der Araber. Als dann schenkte sie ihren
Schwestern ein, welche eine nach der andern tranken: hierauf füllte sie zum
vierten Mal die Schale, und bot sie dem Träger, welcher, indem er sie annahm,
Amine die Hand küsste, und bevor er trank, ein Lied sang, dessen Inhalt war:
dass wie der Wind die Wohlgerüche der duftenden Gegenden, die er durchstreicht,
mit sich führt, ebenso der Wein, den er aus ihrer Hand empfing, dadurch einen
köstlicheren Geschmack erhielte, als er von Natur hätte.

Dieser Anfang erfreute die Frauen, welche
hierauf auch sangen. Kurz die Gesellschaft war sehr aufgeräumt während des
Mahls, welches sehr lange dauerte, und von allem begleitet war, was es angenehm
machen konnte.

Der Tag war beinahe zu Ende, als Safie im
Namen der drei Frauen das Wort nahm, und zu dem Träger sagte: „Steht auf
und geht; es ist Zeit, euch zu entfernen.“

Der Träger konnte sich nicht entschließen,
sie zu verlassen, und antwortete: „Ei schöne Frauen, wo soll ich hingehen,
in dem Zustand, worin ich mich befinde? Ich bin durch euren Anblick und den
Trunk meiner nicht mehr mächtig: ich werde nimmer den Weg nach meinem Haus
finden. Vergönnt mir die Nacht, wieder zu mir zu kommen: ich will sie
zubringen, wo es euch beliebt. In kürzerer Zeit vermag ich mich nicht wieder in
den Zustand herzustellen, in welchem ich war, als ich bei euch eintrat: und dann
noch bin ich ungewiss, ob ich nicht den bessern Teil von mir hier
zurücklasse.“

Amine redete abermals dem Träger das Wort,
und sagte: „Meine Schwestern, er hat Recht; ich bin mit seiner Forderung
wohl zufrieden. Er hat uns gut genug unterhalten; wenn ihr mir folgen wollt,
oder vielmehr, wenn ihr mich so liebt, wie ich davon überzeugt bin, so behalten
wir ihn hier, und lassen ihn den Abend mit uns zubringen.“ –

„Meine Schwester,“ antwortete
Sobeïde, „wir können eurer Bitte nichts versagen. – Träger,“ fuhr
sie fort, indem sie sich zu ihm wandte, „wir wollen euch gern auch noch
diese Gunst erzeugen; wir machen aber dabei eine neue Bedingung. Was wir auch in
eurer Gegenwart vornehmen mögen, uns selber oder etwas anderes betreffend,
hütet euch wohl, nur den Mund zu öffnen, um uns über den Grund davon zu
befragen, denn wenn ihr über Dinge, die euch keineswegs angehen, Fragen an uns
tätet, so möchtet ihr etwas hören, das euch nicht gefiele. Drum nehmt euch in
Acht, und seid nicht zu neugierig, die Beweggründe unserer Handlungen
erforschen zu wollen.“

„Herrin,“ antwortete der Träger,
„ich verspreche euch, diese Bedingung mit solcher Gewissenhaftigkeit zu
beobachten, dass ihr nicht Ursache haben sollt, euch über eine Verletzung
derselben, und noch weniger über meine Unbescheidenheit zu beschweren. Meine
Zunge soll bei dieser Gelegenheit unbeweglich sein, und meine Augen sollen wie
ein Spiegel sein, welcher nichts von den Gegenständen behält, die er
empfängt.“

„Um euch zu überzeugen,“ fuhr
Sobeïde mit sehr ernsthafter Miene fort, „dass das, was wir von euch
verlangen, nicht eine neue Einrichtung bei uns ist, so steht auf und lest, was
über unserer Tür hier innerhalb geschrieben steht.“

Der Träger ging und las folgende Worte, die
in großen goldenen Buchstaben geschrieben waren:

„Wer von Dingen redet, die ihn nichts
angehen, hört, was ihm nicht gefällt.“

Er kam hierauf zurück zu den drei
Schwestern, und sagte zu ihnen: „Schöne Frauen, ich schwöre euch, dass
ihr ich von keiner Sache sollt reden hören, welche mich nichts angeht, und
wobei euer Vorteil im Spiele sein könnte.“

Nachdem dieser Vertrag gemacht war, brachte
Amine das Abendessen, und als sie den Saal mit einer großen Anzahl von Kerzen
erleuchtet hatte, welche, mit Aloeholz und grauem Ambra zubereite, einen
angenehmen Geruch verbreiteten und eine schöne Erleuchtung machten, setzte sie
sich mit ihren Schwestern und dem Träger zu Tische. Sie fingen an, zu essen, zu
trinken, zu singen und Verse herzusagen. Die Frauen hatten ihr Vergnügen daran,
den Träger zu berauschen, unter dem Vorwand, ihn auf ihre Gesundheit trinken zu
lassen. Scherzreden wurden nicht gespart; kurz, sie waren alle bei der
heitersten Laune von der Welt, als sie an die Türe klopfen hörten …“

Bei dieser Stelle war Scheherasade genötigt,
ihre Erzählung abzubrechen, weil sie den Tag anbrechen sah.

Der Sultan zweifelte nicht, dass die
Fortsetzung dieser Geschichte auch gehört zu werden verdiente, verschob sie bis
auf die folgende Nacht und stand auf.


1)
Die Kalender sind Geistliche von ziemlich ausschweifender Art, welche die
Türkei und Persien durchstreichen. Ihr Witz verschafft ihnen oft eine gute
Aufnahme. Sie haben eine Kopftracht sonderbarer Form.

Sie heißen so von ihrem Stifter, Kalender.
Diesen rühmen sie als einen trefflichen Arzt und großen Weltweisen, in Besitz
übernatürlicher Kräfte, durch welche er Wunder tut. Er ging barhaupt und den
Leib mit Wunden bedeckt. Er hatte keine Hemde und gar keine andere Kleidung, als
ein Tierfell über der Schulter. An seinem Gürtel trug er einige
hell geschliffene Steine, und an seinen Armen sehr glänzende falsche Steine.
Seine Schüler lieben die Kunst und das Vergnügen. Sie leben sorglos,
unbekümmert um Wissenschaft, und ihr Wahlspruch ist: „Heute gehört mir,
morgen gehört ihm: Wer weiß, ob er’s erlebt?“ Diesem Grundsatz gemäß,
bringen sie all ihre Zeit mit Essen und Trinken hin. Bei den Reichen suchen sie
sich durch ihre Erzählungen und Späße angenehm zu machen, damit man ihnen
gütlich tue. Die meisten sind Landstreicher, denen das Wirtshaus eben so heilig
ist, als die Moschee.
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