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347. Nacht

Aladdin verließ augenblicklich die Prinzessin, stieg in
den Saal von vierundzwanzig Fenstern hinauf, zog dort aus seinem Busen die
Lampe, die er seit jener Gefahr, in die er durch Vernachlässigung derselben
geraten, überall bei sich trug, und rieb sie. Sogleich erschien ihm der Geist.
„Geist,“ sagte Aladdin zu ihm, „es fehlt diesem Kuppelgewölbe
noch ein Roch-Ei, welches mitten in der Vertiefung desselben aufgehangen sein
müsste. Ich befehle dir nun im Namen der Lampe, die ich in der Hand halte, dass
du diesem Mangel abhelfest.“

Kaum hatte Aladdin diese Worte ausgesprochen, als der
Geist einen so lauten und entsetzlichen Schrei ausstieß, dass der Saal davon
erbebte, und dass Aladdin taumelte, und fast umzufallen in Gefahr war.
„Wie, Elender,“ sagte der Geist in einem Ton zu ihm, der auch dem
unerschrockensten Mann Furcht eingeflößt haben würde, „ist es dir nicht
genug, dass ich und meine Gefährten aus Rücksicht gegen dich alles mögliche
getan haben, dass du mir jetzt, vermöge einer Undankbarkeit, die ihres gleichen
nicht hat, befiehlst, dir meinen Vater zu bringen und ihn mitten in dieser
Kuppelwölbung aufzuhängen? Dieser Frevel verdiente, dass du nebst deiner Frau
und deinem Palast auf der Stelle in Staub und Asche verwandelt würdest.
Indessen zu deinem Glück geht dieser Wunsch nicht unmittelbar von dir aus. Du
musst nämlich wissen, dass der Bruder des afrikanischen Zauberers, deines
Feindes, den du verdientermaßen vertilgt hast, der eigentliche Urheber davon
ist. Er befindet sich in deinem Palast, verkleidet in den Anzug der heiligen
Frau Fatime, die er ermordet hat, und er ist es, der deiner Frau das
verderbliche Verlangen eingab, das du gegen mich geäußert hast. Seine Absicht
ist, dich umzubringen. Du magst dich also in Acht nehmen.“ Mit diesen
Worten verschwand er.

Aladdin verlor keines von den letzten Worten des Geistes.
Er hatte von der heiligen Frau Fatime reden hören, und ihm war nicht unbekannt,
auf welche Weise sie, wie vorgegeben wurde, das Kopfweh heilte. Er kehrte
demnach in das Zimmer der Prinzessin zurück, und ohne ein Wort von dem, was ihm
begegnet war, zu reden, setzte er sich nieder, stütze seine Stirn auf die Hand,
und sagt, dass ihn plötzlich ein heftiges Kopfweh befallen habe. Die Prinzessin
befahl sogleich die heilige Frau zu rufen, und während sie geholt wurde,
erzählte sie Aladdin, bei welcher Gelegenheit sie in den Palast gekommen und
wie sie ihr darin ein Zimmer eingeräumt habe.

Die falsche Fatime kam. Sobald sie eingetreten war, sagte
Aladdin zu ihr: „Komm her, meine gute Mutter, es freut mich euch zu sehen,
und dass ihr gerade zu meinem guten Glück hier seid. Ich werde von einem
heftigen Kopfschmerz geplagt, der mich soeben befallen hat. Im Vertrauen auf
eure Gebete verlange ich von euch Hilfe und hoffe, dass ihr die Wohltat, die ihr
so vielen mit dieser Krankheit behafteten erzeigt, mir nicht abschlagen
werdet.“ Mit diesen Worten stand er auf, indem er den Kopf niederdrückte.
Die falsche Fatime näherte sich ihm, doch mit der Hand an einen Dolch fassend,
den sie unter ihrem Kleid am Gürtel stecken hatte. Aladdin, der ihn immerfort
beobachtete, hielt jenem plötzlich die Hand fest noch ehe er den Dolch gezückt
hatte, durchbohrte ihm mit seinem Dolch das Herz, und warf ihn auf den Fußboden
hin.

„Mein teurer Gemahl, was habt ihr getan?“, reif
die Prinzessin voll Schrecken aus. „Ihr habt ja die heilige Frau
umgebracht!“ – „Nein, geliebte Prinzessin,“ erwiderte Aladdin
ganz ruhig, „nicht Fatime habe ich getötet, sondern einen Schurken, der
mich umgebracht haben würde, wenn ich ihm nicht zuvorgekommen wäre. Dieser
Bösewicht, den ihr hier seht,“ fuhr er fort, indem er ihn enthüllte,
„war es, der Fatime ermordete und sich in ihrem Anzug verkleidete, um mich
zu erdolchen. Damit ihr es nur wisst, er war ein Bruder des afrikanischen
Zauberers, eures Entführers.“ Aladdin erzählte ihr hierauf, wie er diese
einzelnen Umstände erfahren habe, und ließ sodann den Leichnam wegschaffen.

Auf diese Art wurde also Aladdin von der Verfolgung der
beiden verbrüderten Zauberer befreit. Wenige Jahre nachher starb der Sultan in
hohem Alter. Da er keine männlichen Nachkommen hinterließ, so folgte ihm die
Prinzessin Badrulbudur, als gesetzmäßige Erbin, auf dem Thron, und teilte ihre
Herrschaft mit Aladdin. Sie regierten miteinander lange Jahre, und hinterließen
eine berühmte Nachkommenschaft.

„Herr,“ sagte die Sultanin Scheherasade, als sie
die Geschichte von der Wunderlampe vollendet hatte, „Euer Majestät wird
ohne Zweifel bemerkt haben, dass in der Person des afrikanischen Zauberers ein
Mann dargestellt ist, den eine unmäßige Begier ergriffen hat, sich Schätze
auf strafbarem Weg zu erwerben, die er auch wirklich entdeckt, doch zu deren
Besitz er nie gelangt, weil er sich dessen unwürdig gemacht hat. In Aladdin
seht ihr im Gegenteil einen Mann, der sich von niederer Herkunft bis zur
Königswürde erhebt, und zwar durch den Gebrauch derselben Schätze, die ihm in
die Hände fallen, ohne dass er sie sucht, und bloß in dem Maße, als er sie zu
Erreichung seines jedes maligen Zweckes nötig hat. An dem Sultan könnt ihr
abnehmen, wie leicht selbst ein guter, gerechter und gütiger Monarch Gefahr
läuft, entthront zu werden, wenn er vermöge einer schreienden Ungerechtigkeit
und gegen alle Vorschriften der Billigkeit es wagt, aus übereilung einen
Unschuldigen zu verdammen, ohne seine Rechtfertigung zu hören. Endlich werdet
ihr die Schandtaten der beiden verbrecherischen Zauberer verabscheuen, wovon der
eine sein Leben opfert, um Schätze zu gewinnen, und der andere Leben und
Religion zugleich, um einen Frevler, wie er selber, zu rächen, und der gleich
jenem die verdiente Strafe seiner Bosheit empfängt.“

Der Sultan von Indien versicherte seine Gemahlin, die
Sultanin Scheherasade, dass ihn die Abenteuer mit der Wunderlampe sehr
befriedigt hätten, und dass ihre nächtlichen Erzählungen ihm viel Vergnügen
gewährten. Er sah recht gut, dass die Sultanin sehr geschickt eine an die
andere knüpfte. Indessen war er gar nicht böse darüber, dass sie ihm dadurch
Gelegenheit gab, die Vollziehung seines Schwures, keine Frau länger als eine
Nacht zu behalten und sie am folgenden Morgen dann hinrichten zu lassen, in
Hinsicht ihrer noch auszusetzen. Er war fast auf nichts so neugierig als darauf,
ob er es nicht endlich dahin bringen würde, dass ihr der Stoff ausginge.

ur/habicht/1001/300/0347.htm by HTTrack Website Copier/3.x [XR&CO’2006], Mon, 13 Nov 2006 15:09:10 GMT –>