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346. Nacht

Sobald die falsche Fatime ihre lange Anrede geendigt
hatte, sagte die Prinzessin zu ihr: „Meine gute Mutter, ich danke euch für
eure schönen Gebete. Ich habe großes Vertrauen dazu, und hoffe, dass Gott sie
erhören wird. Tretet näher, und setzt euch zu mir.“ Die falsche Fatime
setzte sich mit verstellter Bescheidenheit nieder. Die Prinzessin nahm hierauf
wieder das Wort und sage: „Meine gute Mutter, ich bitte euch bloß um
etwas, das ihr mir aber bewilligen und ja nicht abschlagen müsst, nämlich
darum, dass ihr bei mir bleibt, mir euer Leben erzählt, und mich durch euer
gutes Beispiel lehrt, wie ich Gott dienen soll.“

„Prinzessin,“ sagte hierauf die vermeintliche
Fatime, „ich bitte euch, von mir  nicht etwas zu verlangen, worin ich
nicht willigen kann, ohne mich ganz von meinen Gebeten und erbaulichen übungen
abzulenken und zu zerstreuen.“ – „Das darf euch nicht
beunruhigen,“ erwiderte die Prinzessin, „ich habe mehrere Zimmer, die
nicht besetzt sind, unter diesen könnt ihr euch das auswählen, was euch am
besten zusagen wird, und darin alle eure übungen ebenso ungestört verrichten,
als in eurer Einsiedelei.“

Der Zauberer, welcher keinen anderen Zweck hatte, als sich
in den Palast Aladdins einzuführen, wo es ihm viel leichter sein musste, den
bösen Streich, den er vor hatte, auszuführen, wenn er darin unter
Begünstigung und Schutz der Prinzessin wohnen bliebe, als wenn er immer von der
Einsiedelei nach dem Palast und von da wieder zurück hätte gehen müssen,
machte keine großen Einwendungen und Entschuldigungen gegen das gefällige
Anerbieten der Prinzessin. „Prinzessin,“ sagte er, „wie sehr auch
immer eine arme und elende Frau, wie ich bin, entschlossen sein mag, der Welt
und ihrer Pracht und Herrlichkeit zu entsagen, so wage ich doch nicht, dem
Wunsch und Befehl einer so frommen und mildtätigen Prinzessin zu
widerstreben.“

Auf diese Rede des Zauberers, stand die Prinzessin auf und
sagte zu ihm: „Steht auf und kommt mit mir, damit ich euch die leeren
Zimmer, die ich habe, zeige und euch darunter wählen lasse.“ Er folgte der
Prinzessin Badrulbudur, und wählte unter allen den saubern und schön
geschmückten Zimmern, die sie ihm zeigte, sich dasjenige aus, was am wenigsten
schön war, indem er aus Heuchelei hinzufügte, es sei noch zu gut für ihn, und
er wähle es bloß der Prinzessin zu gefallen.

Die Prinzessin wollte den Betrüger in den Saal von
vierundzwanzig Fenstern zurückführen und ihn mit sich zu Mittag speisen
lassen. Allein da er beim Essen sein bis jetzt immer noch verschleiertes Gesicht
hätte enthüllen müssen, und da er fürchtete, die Prinzessin möchte es
merken, dass er nicht die heilige Frau Fatime sei, so bat er sie so inständig,
ihm dies zu erlassen, – indem er, wie er meinte, bloß Brot und trockene
Früchte äße – und ihm zu erlauben, seine kleine Mahlzeit auf seinem Zimmer zu
sich zu nehmen, dass sie es ihm bewilligte. „Meine gute Mutter,“ sagte
sie zu ihm, „ihr seid frei, tut, als ob ihr in eurer Einsiedelei wärt. Ich
werde euch zu essen bringen, aber vergesst nicht, dass ich euch zurückerwarte,
sobald ihr eure Mahlzeit eingenommen haben werdet.“

Die Prinzessin speiste zu Mittag, und die falsche Fatime
unterließ nicht, sich wieder einzufinden, sobald sie durch einen Verschnittenen
erfahren hatte, dass sie von der Tafel aufgestanden sei. „Meine gute
Mutter,“ sagte die Prinzessin, „ich freue mich, eine so heilige Frau,
wie ihr seid, zu besitzen, welche diesem Palast Segen bringen wird. Beiläufig,
wie gefällt euch der Palast? Doch, ehe ich euch denselben Zimmer vor Zimmer
zeige, so sagt mir zuvor, was ihr zu diesem Saal meint?“

Die falsche Fatime, welche, um ihre Rolle besser spielen
zu können, bisher immer nur mit gesenktem Haupt dagestanden und den Kopf weder
rechts noch links hingewendet hatte, hub ihn bei dieser Frage empor, durchlief
mit ihren Blicken den Saal von einem Ende bis zum andern, und als sie ihn
genugsam betrachtet hatte, sagte sie: „Prinzessin, dieser Saal ist wirklich
bewundernswürdig und sehr schön. Indessen, so viel eine Einsiedlerin, die sich
auf das, was in der Welt für schön gilt, nicht versteht, hiervon urteilen
kann, so scheint mir bloß eine einzige Sache zu fehlen.“ – „Was denn,
meine gute Mutter?“, fragte die Prinzessin. „Sagt es mir, ich
beschwöre euch darum. Ich für meinen Teil hatte immer geglaubt und auch sogar
sagen hören, dass nichts daran fehle. Wenn indessen noch irgend etwas daran
fehlt, so werde ich der Sache abhelfen lassen.“

„Prinzessin,“ erwiderte die falsche Fatime mit
vieler Verstellung, „verzeiht mir die Freiheit, die ich mir nehme. Meine
Meinung – wenn euch an dieser nämlich etwas liegen kann, – würde sein, dass,
wenn oben von der Mitte dieser Kuppel ein Roch-Ei herabhinge, dieser Saal nichts
seines gleichen auf Erden haben und dieser Palast ein Wunder der Welt sein
würde.“

„Meine gute Mutter,“ fragte die Prinzessin,
„was ist denn das für ein Vogel, der Roch, und wo könnte man wohl ein Ei
von ihm herbekommen?“ – „Prinzessin,“ erwiderte die falsche
Fatime, „es ist dies ein Vogel von bewunderungswürdiger Größe, der auf
der höchsten Spitze des Berges Kaukasus wohnt. Der Erbauer eures Palastes wird
euch schon eines verschaffen.“

Die Prinzessin Badrulbudur, nachdem sie der falschen
Fatime für ihren vermeintlichen guten Rat gedankt hatte, fuhr fort, sich mit
ihr über andere Gegenstände zu unterhalten, doch vergaß sie das Roch-Ei
nicht, und nahm sich vor, sobald Aladdin von der Jagd wiederkäme, mit ihm davon
zu reden. Seit sechs Tagen war er nämlich fort, und der Zauberer, der es recht
gut wusste, hatte diese Abwesenheit benutzen wollen. Aladdin kam noch denselben
Tag des Abends zurück, während die falsche Fatime soeben von der Prinzessin
sich beurlaubt, und sich nach ihrem Zimmer begeben hatte. Er stieg in das Zimmer
der Prinzessin hinauf, welche soeben in dasselbe zurückkehrte, er begrüßte
sie und umarmte sie: Doch schien es ihm, als ob sie ihn etwas kälter empfinge.
„Teure Prinzessin,“ sagte er zu ihr, „ich finde euch nicht so
heiter als sonst. Ist in meiner Abwesenheit etwas vorgefallen, das euch
missfallen oder euch Verdruss und Missvergnügen verursacht hat? Beim Himmel,
verhehlt es mir nicht, ich werde alles aufbieten, um es von euch zu entfernen,
sofern es in meiner Macht steht.“ – „Es ist bloß eine
Kleinigkeit,“ antwortete die Prinzessin, „und es kümmert mich so
wenig, dass ich gar nicht geglaubt habe, dass ihr auf meinem Gesicht eine Spur
davon bemerken würdet. Indessen, da ihr wider mein Erwarten eine Veränderung
auf demselben wahrgenommen, so will ich euch die Ursache nicht verhehlen, obwohl
sie von geringer Bedeutung ist. Ich hatte, so wie ihr, immer geglaubt,“
fuhr die Prinzessin fort, „dass unser Palast der herrlichste, prachtvollste
und vollendetste auf der Welt wäre. Indessen muss ich euch sagen, was mir bei
genauer Besichtigung des Saales mit den vierundzwanzig Fenstern in den Sinn
gekommen ist. Meint ihr nicht auch, dass nichts übrig zu wünschen sein würde,
wenn in der Mitte des Kuppelgewölbes ein Roch-Ei schwebend hinge?“ –
„Prinzessin,“ antwortete Aladdin, „wenn ihr findet, dass ein
Roch-Ei noch daran fehlt, so ist das für mich hinlänglich, um denselben Mangel
zu empfinden, und aus der Emsigkeit, womit ich diesem Mangel abhelfen werde,
werdet ihr euch überzeugen, dass ich euch zu Liebe alles mögliche tue.“