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344. Nacht

Aladdin, welcher vorausgesehen hatte, was kommen könnte,
war mit Tagesanbruch aufgestanden, und nachdem er sich eines seiner
prächtigsten Kleider angelegt, war er in den Saal der vierundzwanzig Fenstern
hinaufgegangen, von wo aus er den Sultan kommen sah. Er eilte hinunter, und kam
gerade noch zu rechter Zeit, um ihn unten an der Haupttreppe zu empfangen und
ihm vom Pferd herabsteigen zu helfen. „Aladdin,“ sagte der Sultan zu
ihm, „ich kann mit dir kein Wort sprechen, bevor ich nicht meine Tochter
gesehen und umarmt habe.“

Aladdin führte den Sultan nach den Zimmern der Prinzessin
Badrulbudur, und diese, welche beim Aufstehen durch Aladdin erinnert worden war,
dass sie sich nicht mehr in Afrika, sondern in China und in der Hauptstadt ihres
Vaters und zwar dicht an seinem Palast befände, war soeben mit ihrem Ankleiden
fertig. Der Sultan umarmte sie mehrere Mal, das Gesicht voll Freudentränen, und
die Prinzessin gab ihm ihrerseits alle möglichen Beweise der Freude, die sie
darüber empfand, ihn wieder zu sehen.

Der Sultan war eine Weile völlig sprachlos vor Rührung,
dass er seine geliebte Tochter, die er so lange als verloren beweint hatte,
wieder gefunden habe, und die Prinzessin vergoss ihrerseits ebenfalls Tränen vor
Freude, dass sie ihren Vater, den Sultan, wieder sah.

Endlich nahm der Sultan das Wort und sagte: „Meine
Tochter, ich muss annehmen, dass die Freude, dich wieder zu sehen, macht, dass du
mir so wenig verändert vorkommst, als ob dir nichts unangenehmes begegnet
wäre. Doch bin ich überzeugt, dass du viel ausgestanden haben magst. Man kann
mit einem ganzen Palast so plötzlich, wie du, nicht leicht fortgebracht werden,
ohne dass es dabei große Unruhe und schreckliche Angst geben sollte. Erzähle
mir alles, und verhehle mir nichts.

Die Prinzessin machte sich ein Vergnügen daraus, dem
Sultan, ihrem Vater, dies Verlangen zu gewähren. „Euer Majestät,“
sagte sie, „wenn ich euch so wenig verändert vorkomme, so bitte ich euch,
zu erwägen, dass ich bereits gestern ganz früh wieder aufzuleben anfing, durch
die Gegenwart meines teuren Gemahls und Befreiers Aladdin, den ich bereits als
für mich verloren betrachtet und beweint hatte, und dass das Glück, welches
ich so eben gehabt, euch zu umarmen, mich ganz wieder in denselben Zustand
versetzt, wie zuvor. Um es frei heraus zu sagen, – mein ganzes Leiden bestand
darin, mich Euer Majestät und meinem teuren Gemahl entrissen zu sehen, und zwar
nicht bloß hinsichtlich meiner Liebe zu meinem Gemahl, sondern auch in
Besorgnis wegen der traurigen Ausbrüche des Zornes Euer Majestät, denen er, so
unschuldig er war, ohne Zweifel ausgesetzt sein musste. Minder habe ich von der
Unverschämtheit meines Entführers zu leiden gehabt, welcher gegen mich Reden
führte, die mir nicht gefallen konnten. Doch wusste ich, vermöge des
übergewichts, das ich mir über ihn verschaffte, denselben ein Ziel zu setzen.
übrigens tat man mir so wenig Zwang an, als es in diesem Augenblick der Fall
ist. Was aber meine Entführung anbetrifft, so hat Aladdin daran gar keinen
Anteil, sondern ich bin die einzige, obwohl unschuldige, Ursache davon.“

Um den Sultan zu überzeugen, dass sie die Wahrheit rede,
erzählte sie ihm umständlich, wie sich der afrikanische Zauberer in einen
Lampenhändler verkleidet habe, um neue Lampen gegen alte einzutauschen, wie sie
zur Kurzweil die Lampe Aladdins, deren geheime Kraft und Wichtigkeit sie nicht
gekannt, gegen eine neue von ihm eingetauscht habe: Ferner, wie nach diesem
Tausch sie und ihr Palast aufgehoben und nach Afrika versetzt worden sei, nebst
dem afrikanischen Zauberer, welcher von zweien ihrer Dienerinnen und von dem
Verschnittenen, welcher den Umtausch gemacht hatte, sogleich wieder erkannt
worden sei, als er nach dem glücklichen Erfolg seines Unternehmens sich ihr das
erste Mal vorzustellen und um ihre Hand anzuhalten wagte: Endlich, die
Anfechtungen, die sie bis zu Aladdins Ankunft zu erleiden gehabt, welche
Maßregeln sie gemeinschaftlich ergriffen hatten, um ihm die Lampe, welche er bei
sich trug, zu entreißen: Wie ihnen dies geglückt sei, indem sie sich gegen ihn
verstellt und ihn zum Abendessen auf ihr Zimmer geladen, und so fort, bis zum
gemischten Becher, den sie ihm dargereicht hatte. „Was das übrige
betrifft,“ fuhr sie fort, „so überlasse ich es meinem Gemahl, euch
davon Rechenschaft abzulegen.“

Aladdin hatte nur weniges noch hinzuzufügen. „Als
man mir,“ erzählte er weiter, „die verborgene Tür geöffnet hatte,
und ich zum Saal von vierundzwanzig Fenster hinaufgestiegen war und den
Verräter durch die Kraft des Pulvers tot auf dem Sofa liegen sah, so bat ich
die Prinzessin, da ein längeres Verweilen ihr nicht wohl geziemt hätte, sich
mit ihren Frauen und Verschnittenen nach ihrem Zimmer zu begeben. Ich bleib
allein zurück, und nachdem ich dem Zauberer die Lampe aus dem Busen gezogen,
bediente ich mich derselben geheimen Kraft, deren er sich bedient hatte, um
diesen Palast nebst der Prinzessin zu entführen. Ich habe nun bewirkt, dass der
Palast sich wieder an seiner Stelle befindet, und habe das Glück gehabt, Euer
Majestät, wie mir befohlen, die Prinzessin wieder zuzuführen. übrigens
täusche ich Euer Majestät gewiss nicht, und wenn ihr euch bis in den Saal
hinauf bemühen wollt, so werdet ihr sehen, wie der Zauberer nach Gebühr
bestraft worden.“

Um sich ganz von der Wahrheit zu versichern, stand der
Sultan auf und ging hinauf, und als er den afrikanischen Zauberer tot und im
Gesicht ganz schwarzblau vom Gift daliegen gesehen hatte, umarmte der Aladdin
sehr zärtlich und sagte zu ihm: „Mein Sohn, nimm mir die Maßregeln, die
ich gegen dich ergriffen, nicht übel. Meine väterliche Liebe zwang mich dazu,
und ich verdiene es, dass du mir diesen übereilen Schritt, zu welchem ich mich
hinreißen ließ, verzeihst.“ – „Herr,“ erwiderte Aladdin,
„ich habe nicht die mindeste Ursache, mich über das Verfahren Euer
Majestät zu beklagen. Ihr tatet bloß, was ihr tun musstet. Dieser Zauberer,
dieser Schändlichste, dieser Nichtswürdige war die einzige Ursache, dass ich
in eure Ungnade fiel. Wenn Euer Majestät einmal Muße haben wird, so werde ich
euch einen anderen boshaften Streich erzählen, den er mir gespielt hat, und der
nicht minder schwarz ist, als dieser, vor welchem mich noch Gottes besondere
Gnade behütet hat.“ – „Ich werde selber,“ erwiderte der Sultan,
„dir eine gewisse Stunde dazu bestimmen, und das recht bald. Doch lass uns
jetzt darauf denken, uns zu erholen, und lass diesen verhassten Gegenstand
fortschaffen.

Aladdin ließ den Leichnam des afrikanischen Zauberers
hinweg nehmen und befahl, ihn auf den Schindanger zum Fraß für Tiere und Vögel
hinzuwerfen. Der Sultan befahl unterdessen, durch Trommeln, Pauken, Trompeten
und andere Instrumente ein Zeichen zur allgemeinen und öffentlichen Freude zu
geben, und ließ zur Feier der Rückkehr der Prinzessin Badrulbudur und Aladdins
ein zehntägiges Fest ankündigen.

So entkam denn Aladdin zum zweiten Male einer fast
unvermeidlichen Lebensgefahr. Aber es war noch nicht die letzte, sondern er kam
noch zum dritten Male in eine solche, die wir hier umständlich erzählen
wollen.

Der afrikanische Zauberer hatte noch einen jüngeren
Bruder, der in der Zauberkunst nicht minder erfahren war als er, ja man kann
sagen, dass er an Bösartigkeit und verderblichen Ränken ihn noch übertraf. Da
sie nicht immer beisammen, noch auch in einer und derselben Stadt lebten, und da
oft der eine im Osten, der andere im Westen sich befand, so unterließen sie
nicht, mit Hilfe der Punktierkunst gegenseitig alle Jahre auszumitteln, in
welchem Teil der Welt ein jeder von ihnen lebe, wie jeder sich befände, und ob
er nicht die Hilfe des andern bedürfe.

Kurze Zeit nachher, als der afrikanische Zauberer in
seiner Unternehmung gegen Aladdin Glück seinen Tod gefunden, wollte sein
jüngerer Bruder, der seit Jahr und Tag nichts von ihm erfahren, und sich nicht
in Afrika, sondern in einem sehr entfernten Land aufhielt, gern wissen, an
welchem Ort der Erde jener lebe, wie er sich befinde, und was er mache. Wo er
nur ging und stand, hatte er, so wie sein Bruder, stets sein Punktierviereck bei
sich. Er nahm jetzt dieses vor, ordnete den Sand, machte seine Punkte, zog
Figuren und Linien und stellte die Nativität. Indem er alle die Figuren
durchlief, fand er, dass sein Bruder nicht mehr auf der Welt, sondern vergiftet
und plötzlich gestorben sei, und das in der Hauptstadt Chinas, an dem und dem
Ort, und zwar sei er durch einen Mann von niederer Herkunft, welcher des Sultans
Prinzessin geheiratet, vergiftet worden.