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340. Nacht

Der Großwesir ließ den Sultan nicht lange auf sich
warten. Er kam in solcher Eile, dass weder er noch seine Leute im Vorübergehen
darauf Acht hatten, dass Aladdins Palast nicht mehr an seiner Stelle stand.
Selbst die Pförtner, als sie die Pforte des Palastes öffneten, hatten es nicht
einmal bemerkt.

Der Großwesir redete den Sultan mit den Worten an:
„Herr, die Eile, womit Euer Majestät mich hat rufen lassen, lässt mich
schließen, dass irgend etwas außerordentliches vorgefallen sei, da euch ja
nicht unbekannt ist, dass heute Sitzung der Ratsversammlung ist, und dass ich
folglich meiner Pflicht gemäß mich ohnehin bald eingestellt haben
würde.“ – „Das, was vorgefallen ist, ist wirklich etwas
außerordentliches, wie du gesagt hast, und du wirst mir es bald zugeben. Sage
mir, wo ist der Palast Aladdins?“ – „Der Palast Aladdins?“,
erwiderte der Großwesir ganz erstaunt. „Ich ging soeben an demselben
vorbei, und er war, wie mich dünkt, noch an seiner Stelle. Gebäude, die so
fest und dauerhaft als dieses da ausgeführt sind, ändern nicht so leicht ihre
Stelle.“ – „Geh einmal in dieses Kabinett und sieh hin,“
antwortete der Kalif, „und du wirst mir bald etwas Neues davon
melden.“

Der Großwesir begab sich in den offenen Erker und es ging
ihm wie dem Sultan. Als er sich völlig versichert hatte, dass Aladdins Palast
nicht mehr da stehe, wo er gestanden, und dass keine Spur mehr davon vorhanden
sei, so trat er wieder zu dem Sultan. „Nun, hast du Aladdins Palast
gesehen?“, fragte ihn dieser. – „Herr,“ erwiderte der Großwesir,
„Euer Majestät wird sich erinnern, dass ich früher immer sagte, dass
dieser Palast, der durch seinen ungeheueren Reichtum eure Bewunderung auf sich
zog, bloß ein Werk der Zauber sei, doch Euer Majestät wollte nicht darauf
achten.“

Der Sultan, welcher das, was der Großwesir ihm in
Erinnerung brachte, nicht abzuleugnen vermochte, geriet in einen umso größeren
Zorn, da er seinen früheren Unglauben nicht in Abrede stellen konnte. „Wo
ist,“ rief er, „dieser Betrüger, dieser Verbrecher, damit ich ihm den
Kopf abschneiden lassen kann?“ – „Herr,“ antwortete der
Großwesir, „er hat sich vor einigen Tagen bei Euer Majestät beurlaubt.
Man muss ihn fragen lassen, wo sein Palast hingekommen ist. Er muss es
wissen.“ – „Das hieße ihn mit zu viel Schonung behandeln,“
erwiderte der Sultan, „geh du und gib dreißig meiner Reiter den befehl,
ihn gefesselt vor mich zu führen.“ Der Großwesir ging und überbrachte
den Reitern den Befehl des Sultans, und unterrichtete den Befehlshaber
derselben, wie sie sich dabei benehmen sollten, damit er ihnen nicht
entschlüpfte. Sie gingen ab und trafen Aladdin etwas fünf bis sechs Stunden
von der Stadt auf der Heimkehr von der Jagd. Der Anführer ritt an ihn hinan und
sagte zu ihm, der Sultan habe große Sehnsucht, ihn wieder zu sehen, und habe
sie daher abgeschickt, um es ihm anzuzeigen und ihn auf dem Rückweg zu
begleiten.

Aladdin ahnte nicht das mindeste von dem wirklichen
Anlass, der diese Abteilung der Leibwache des Sultans zu ihm geführt hatte, und
setzte seinen Rückweg fort. Doch als er etwas noch eine halbe Stunde von der
Stadt entfernt war, umringte ihn die Reiterschar und der Anführer derselben
nahm das Wort und sagte zu ihm: „Prinz Aladdin, zu unserem großen Bedauern
müssen wir euch erklären, dass wir vom Sultan den Befehl haben, euch zu
verhaften und euch als einen Staatsverbrecher zu ihm zu führen. Wir bitten euch
zugleich, es nicht übel aufzunehmen, dass wir unsere Pflicht erfüllen, und es
uns zu verzeihen.“

Diese Erklärung war eine große überraschung für
Aladdin, der sich unschuldig fühlte. Er fragte den Anführer, ob er wohl wisse,
welches Verbrechens man ihn angeklagt habe. Doch dieser antwortete, dass weder
er noch seine Leute das geringste davon wüssten.

Als Aladdin sah, dass seine Leute der Reiterschar nicht
gewachsen waren und ihn sogar verließen, so stieg er vom Pferd ab und sagte:
„Hier bin ich. Vollzieht den Befehl, der euch aufgetragen ist. Gleichwohl
kann ich versichern, dass ich mir keines Verbrechens bewusst bin, weder gegen
die Person des Sultans noch gegen den Staat.“ Man warf ihm sogleich eine
dicke und lange Kette um den Hals, womit man ihn auch mitten um den Körper
band, so dass er die Hände nicht frei hatte. Als der Anführer sich an die
Spitze der Reiterschar gestellt hatte, fasste ein Reiter das Ende der Kette, und
führte so, hinter dem Anführer her reitend, Aladdin, der zu Fuß ihm folgen
musste und in diesem Zustand in die Stadt hineingebracht wurde.

Als die Reiter in die Vorstadt kamen, zweifelten die
ersten, welche Aladdin als Staatsverbrecher daher geführt sahen, keinen
Augenblick, dass es ihm den Kopf kosten würde. Da er allgemein beliebt war, so
ergriffen einige Säbel und andere Waffen, und die, welche keine hatten,
bewaffneten sich mit Steinen und folgten hinter den Reitern drein. Einige
derselben, die sich im Nachtrab befanden, schwenkten um und machten Miene, sie
auseinander zu sprengen, doch die Anzahl der letzteren nahm so sehr zu, dass die
Reiter beschlossen, es sich nicht weiter merken zu lassen und zufrieden zu sein,
wenn sie den Palast des Sultans erreichten, ohne dass man ihnen den Aladdin
entrisse. Um dies zu bewerkstelligen, trugen sie große Sorge, die ganze Breite
der Straße, je nachdem sie weiter oder enge war, einzunehmen, und so gelangten
sie denn an den Platz vor dem Palast, wo sie sich in einer Linie aufstellten und
gegen die bewaffnete Volksmasse Front machten, bis ihr Befehlshaber und der
Reiter, welcher Aladdin führte, in den Palast eingetreten waren und die
Pförtner das Tor hinter ihnen geschlossen hatten, um das Volk abzuhalten.

Aladdin wurde vor den Sultan geführt, der in Begleitung
des Großwesirs ihn auf dem Balkon erwartete. Sobald er ihn erblickte, befahl er
dem Scharfrichter, welcher dazu hinbestellt worden war, ihm den Kopf
abzuschneiden, ohne dass er ihn weiter anhören oder irgend einigen Aufschluss
von ihm haben wollte.

Als der Scharfrichter sich Aladdins bemächtigt hatte,
nahm er ihm die Kette ab, die um seinen Hals und Leib geschlungen war, und
nachdem er ein Leder, das mit dem Blut von unzähligen hingerichteten
Verbrechern befleckt war, auf die Erde hingebreitet hatte, ließ er ihn darauf
niederknien und verband ihm die Augen. Hierauf zog er sein Schwert heraus, und
schickte sich an, den tödlichen Streich zu führen, indem er ausholte, und den
Säbel dreimal in der Luft herum schwang, auf das Zeichen des Sultans wartend,
um Aladdin den Kopf abzuhauen.

In diesem Augenblick bemerkte der Großwesir, dass der
Pöbel, der die Reiter überwältigt und den Platz erfüllt hatte, anfing, die
Mauern des Palastes an mehreren Stellen mit Leitern zu ersteigen und sie sogar
niederzureißen, um eine öffnung zu machen. Er sagte daher zu dem Sultan, noch
ehe dieser das Zeichen gab: „Herr, ich bitte Euer Majestät, den Schritt,
den ihr zu tun im Begriff seid, reiflich zu überlegen. Ihr lauft Gefahr, euren
Palast erstürmt zu sehen, und wenn dies Unglück geschähe, so könnten die
Folgen davon sehr Unheil bringend sein.“ – „Mein Palast
erstürmt?“, erwiderte der Sultan. „Wer dürfte sich dies
erkühnen?“ – „Herr,“ antwortete der Großwesir, „Euer
Majestät darf nur einen Blick auf die Mauern ihres Palastes und auf den Platz
werfen, um die Wahrheit meiner Behauptung einzusehen.“

Als der Sultan den lebhaften und heftigen Volksaufstand
gewahrte, war sein Schrecken so groß, dass er augenblicklich dem Scharfrichter
befahl, sein Schwert wieder in die Scheide zu stecken, die Binde von Aladdins
Augen zu nehmen und ihn freizulassen. Zugleich befahl er seinen Trabanten,
auszurufen, dass der Sultan ihm Gnade widerfahren lasse, und dass jeder sich
nur entfernen möge.

Nunmehr gaben alle die, welche bereits die Mauern des
Palastes erstiegen hatten, und Zeugen von dem waren, was da vorging, ihr
Vorhaben auf. Sie stiegen in kurzer Zeit wieder hinab, und voll Freude darüber,
einem Mann, den sie wahrhaft liebten, das Leben gerettet zu haben, teilten sie
diese Neuigkeit allen Umstehenden mit. Sie verbreitete sich sehr bald unter der
ganzen Volksmasse, die den Platz des Palastes erfüllte, und das Ausrufen der
Trabanten, welche oben von den Terrassen herab dasselbe verkündigten, machte
sie vollends allgemein bekannt. Die Gerechtigkeit, welche der Sultan durch
Aladdins Begnadigung demselben erwiesen hatte, entwaffnete den Pöbel und
dämpfte den Aufruhr, und nach und nach ging jeder von dannen nach Hause.

Sobald Aladdins ich wieder freien Fußes sah, hob er sein
Haupt nach dem Balkon empor, und als er auf demselben den Sultan erblickte, reif
er in einem rührenden Ton: „Herr, ich bitte Euer Majestät, mir zu der
schon erwiesenen Gnade noch eine neue hinzufügen und mich gnädigst wissen zu
lassen, welches denn eigentlich mein Verbrechen ist.“ – „Was dein
Verbrechen ist, Treuloser?“, erwiderte der Sultan, „weißt du das noch
nicht einmal? Steige hier herauf, ich werde dir es zeigen.“

Aladdin stieg hinauf und nachdem er sich dem Sultan
vorgestellt, sagte dieser zu ihm: „Folge mir!“, und ging vor ihm her,
ohne ihn weiter anzusehen. Er führte ihn bis zu dem offenen Erker, und sagte,
als er an der Tür war, zu ihm: „Tritt hier hinein. Du musst ja wohl noch
wissen, wo dein Palast stand. Sieh dich hier nach allen Seiten um und sage mir
dann, was aus ihm geworden ist.“

Aladdin sah hin und erblickte nichts. Er bemerkte wohl den
ganzen Platz, den sein Palast sonst eingenommen, aber da er gar nicht erraten
konnte, wie er so ganz habe verschwinden können, so setzte ihn dies seltsame
und überraschende Ereignis in ein Staunen und in eine Bestürzung, die ihn
hinderten, dem Sultan auch nur ein einziges Wort zu antworten.

Der Sultan wiederholte voll Ungeduld die Frage: „Sage
mir doch, wo dein Palast und wo meine Tochter ist?“ Aladdin brach nun sein
Schweigen und sagte: „Herr, ich sehe wohl und gestehe es ein, dass er
Palast, den ich habe erbauen lassen, nicht mehr auf seiner Stelle steht. Ich
sehe, dass er verschwunden ist, und ich kann Euer Majestät nicht sagen, wo er
sein mag. Indessen kann ich euch versichern, dass ich keinen Anteil an diesem
Ereignis habe.“

„Was aus deinem Palast geworden ist,“ fuhr der
Sultan fort, „kümmert mich eben nicht sehr. Meine Tochter ist mir
Millionen Mal mehr wert als jener. Darum verlange ich, dass du sie mir
wieder schaffst, sonst lasse ich dir ohne weitere Rücksicht den Kopf
abschneiden.“

„Herr,“ erwiderte Aladdin, „ich bitte Euer
Majestät um vierzig Tage Frist, um die nötigen Maßregeln zu ergreifen, und
wenn ich binnen dieser Zeit meinen Zweck nicht erreiche, so gebe ich euch mein
Wort, dass ich selber meinen Kopf zu den Füßen eures Thrones niederlegen will,
damit ihr nach eurem Belieben darüber verfügen könnt.“ – „Ich
bewillige dir die Frist von vierzig Tagen, welche du verlangst,“ sagte
hierauf der Sultan, „doch denke ja nicht etwas, diese Gnade zu missbrauchen
und meinem Zorn entfliehen zu können. In welchem Winkel der Erde du auch sein
magst, ich werde dich schon zu finden wissen.“