Project Description

325. Nacht

In dieser Zwischenzeit hatte Aladdin, welcher nicht
unterließ, sehr fleißig bei den Zusammenkünften angesehener Personen in den
Läden der größten Kaufleute, die mit Gold-, Silber- und Seidenstoffen, den
feinsten Schleiertüchern und Juwelen handelten, sich einzufinden, und bisweilen
selbst an ihren Unterhaltungen Teil zu nehmen, sich vollends ausgebildet und
allmählich alle Manieren der feinen Weltleute angenommen. Bei den
Juwelenhändlern besonders war es, wo ihm die Täuschung genommen wurde, als
wären diese durchsichtigen Früchte, die er in jenem unterirdischen Garten
gepflügt hatte, bloß von buntfarbigem Glas. Er erfuhr da, dass es sehr
kostbare Edelsteine wären. Dadurch nämlich, dass er in diesen Läden alle
Arten von Edelsteinen verkaufen sah, lernte er sie nach ihrem Wert kennen und
schätzen. Da er nirgends welche sah, die den seinigen an Schönheit oder an
Größe gleichgekommen wären, so begriff er wohl, dass er anstatt dieser
angeblichen Glasstücke, die er für Kleinigkeiten geachtet hatte, unschätzbare
Kleinode besäße. Er war indessen so klug, niemand etwas davon zu sagen, selbst
nicht einmal seiner Mutter. Diesem Stillschweigen eben verdankte er jenes hohe
Glück, zu welchem er, wie wir sehen werden, in der Folge emporstieg.

Als Aladdin eines Tages in einer Gegend der Stadt
spazieren ging, hörte er mit lauter Stimme einen Befehl des Sultans ausrufen,
jeder solle seinen Laden und seine Haustüre schließen, und sich in das Innere
seiner Wohnung zurückziehen, bis die Tochter des Sultans, die Prinzessin
Badrulbudur1),
nach dem Bad vorüber gegangen und wieder zurückgekehrt sein würde.

Dieser öffentliche Aufruf weckte in Aladdin die
Neugierde, die Prinzessin entschleiert zu sehen. Aber er konnte dies nicht wohl
anders, als wenn er sich in das Haus eines Bekannten begab, und da durch
Gitterfenster sah, was ihn indessen immer nicht befriedigte, da die Prinzessin,
dem Brauch zufolge, auf ihrem Weg nach dem Bad einen Schleier auf dem Gesicht
haben musste. Um seine Neugierde zu befriedigen, ersann er endlich ein Mittel,
welches glückte. Er versteckte sich nämlich hinter der Tür des Bades, welches
so eingerichtet war, dass er sie unfehlbar von Angesicht sehen musste.

Aladdin durfte nicht lange warten. Die Prinzessin
erschien, und er betrachtete sie durch einen Ritz, welcher groß genug war, um
sie in Augenschein zu nehmen, ohne selber gesehen zu werden. Sie kam in
Begleitung einer großen Anzahl von dienenden Frauen und von Verschnittenen,
welche teils neben ihr, teils hinter ihr hergingen. Als sie etwa drei bis vier
Schritte von der Tür des Bades entfernt war, nahm sie den Schleier ab, der ihr
Gesicht bedeckte, und der ihr sehr unbequem war, und Aladdin sah sie nun umso
bequemer, da sie gerade auf ihn los kam.

Aladdin hatte bis dahin noch nie eine Frau mit
entschleiertem Gesicht gesehen, als seine Mutter. Diese gute Frau war indessen
sehr alt, und war niemals so hübsch gewesen, dass er von ihr auf die Schönheit
der Frauen überhaupt hätte einen Schluss machen können. Zwar hatte er wohl
gehört, dass es Frauen von hoher Schönheit gäbe. Allein mit welchen
Ausdrücken man auch immer Schönheiten schildern mag, so machen sie doch nie
den Eindruck, den die Schönheit selber macht.

Sobald Aladdin die Prinzessin Badrulbudur gesehen hatte,
so gab er seine bisherige Meinung auf, als glichen alle Frauen mehr oder weniger
seiner Mutter. Seine ganzen Gefühle wurden plötzlich umgewandelt, und sein
Herz konnte dem reizenden Mädchen seine höchste Zuneigung nicht versagen. Die
Prinzessin war in der Tat die schönste Brünette, die es auf der Welt nur geben
kann. sie hatte große, mit der Stirn gleichstehende, lebhafte und feurige
Augen, einen sanften und bescheidenen Blick, eine Nase von richtigem Verhältnis
und ohne Tadel, einen kleinen Mund, rosige und reizende Lippen. Mit einem Wort,
alle Züge und Teile ihres Gesichts waren von der vollendetsten
Regelmäßigkeit. Man darf sich daher nicht wundern, wenn Aladdin durch den
Anblick eines so seltenen Vereins des Schönsten und wunderbarsten geblendet und
fast außer sich gesetzt wurde. Außer allen diesen Vollkommenheiten besaß die
Prinzessin auch noch einen sehr vollen Wuchs und eine majestätische Haltung,
deren Anblick allein schon Ehrfurcht gebot.

Als die Prinzessin ins Bad hineingegangen war, blieb
Aladdin eine Weile ganz verwirrt und wie in Entzückung stehen, indem er sich
unaufhörlich das reizende Bild vor die Seele rief. Endlich kam er wieder zur
Besinnung, und indem er bedachte, dass die Prinzessin bereits vorüber war, und
dass er ganz zwecklos seine Stellung länger behalten würde, weil sie beim
herausgehen aus dem Bad ihm ja den Rücken kehren und verschleiert sein würde,
so fasste er den Entschluss, seinen Ort zu verlassen und sich zu entfernen.

Aladdin konnte bei seiner Rückkehr nach Hause seine
Verwirrung und Unruhe nicht so verbergen, dass es seine Mutter nicht gemerkt
hätte. Sie war erstaunt, ihn so ganz wider seine Gewohnheit traurig und
nachdenkend zu erblicken, und fragte ihn daher, ob ihm etwas begegnet wäre,
oder ob er sich unpässlich befände. Doch Aladdin antwortete nichts, sondern
warf sich nachlässig aufs Sofa hin, wo er unverändert in einer und derselben
Lage blieb, und sich fortwährend damit beschäftigte, sich das Bild der
reizenden Prinzessin zu vergegenwärtigen. Seine Mutter, die das Abendessen
zubereitete, drang nicht weiter in ihn. Als es fertig war, stellte sie es neben
ihn auf das Sofa und setzte sich zu Tisch. Da sie indessen bemerkte, dass ihr
Sohn gar nicht darauf achtete, erinnerte sie ihn, dass er doch essen möchte,
und erst durch viele Bemühungen vermochte sie ihn, seine Lage zu ändern. Er
aß indessen weit weniger als gewöhnlich, mit niedergeschlagenen Augen und mit
einem so tiefen Stillschweigen, dass es seiner Mutter nicht möglich war, durch
alle ihre Fragen über den Anlass einer so ungewöhnlichen Veränderung ihm
irgend ein Wort zu entlocken.

Nach dem Abendessen wollte sie von neuem anfangen ihn zu
fragen, woher denn seine tiefe Schwermut rührte. Allein sie konnte nichts aus
ihm herausbringen, und Aladdin ging zu Bett, ohne seine Mutter im mindesten
zufrieden gestellt zu haben.

Den folgenden Tag setzte er sich wieder auf das Sofa,
seiner Mutter gegenüber, welche, ihrer Gewohnheit zufolge, Baumwolle spann, und
fing mit ihr auf folgende Weise an zu sprechen: „Ich muss das
Stillschweigen brechen, das ich seit meiner gestrigen Rückkehr beobachtet habe,
und das dich, wie ich bemerken konnte, sehr bekümmert hat. Ich war nicht krank,
wie du glaubtest, und ich bin es auch jetzt nicht. Aber ich kann dir nicht
sagen, was ich empfand, und was ich noch immerfort empfinde. – Es ist etwas weit
schlimmeres, als Krankheit. Ich weiß nicht, was es eigentlich ist, aber aus
dem, was du von mir vernehmen wirst, wirst du es vielleicht erkennen. Es ist in
diesem Stadtviertel nicht bekannt geworden, und so kannst du es denn auch nicht
wissen, dass die Tochter des Sultans, die Prinzessin Badrulbudur, sich gestern
Nachmittag ins Bad begeben hat. Ich erfuhr es gestern, als ich in der Stadt
umherspazierte. Man rief nämlich den Befehl aus, dass alle Läden geschossen
werden, und dass jeder sich in sein Haus begeben sollte, um der Prinzessin die
gebührende Ehre zu erzeigen, und ihr auf den Straßen, durch welche sie käme,
einen freien Durchgang zu lassen. Da ich von dem Bad nicht weit entfernt war,
brachte die Neugier, sie bei entschleiertem Gesicht zu sehen, mich auf den
Gedanken, mich hinter die Türe des Bades zu verstecken, indem ich dachte, es
könnte wohl möglich sein, dass sie ihren Schleier vor dem Eintritt ins Bad
abnähme. Du kennst die Lage der Tür, und wirst daher leicht annehmen können,
dass ich sie sehr bequem da sehen musste, sofern alles so kam, wie ich
vermutete. Sie nahm auch wirklich beim Eintritt ihren Schleier ab, und ich hatte
das Glück, diese liebenswürdige Prinzessin zu meinem unaussprechlichen
Vergnügen von Angesicht zu sehen. Dies ist nun, liebe Mutter, die Ursache jenes
Zustandes, worin du mich gestern bei meiner Rückkehr erblicktest, und zugleich
der Grund jenes Stillschweigens, welches ich beobachtet habe. Ich liebe die
Prinzessin mit einer unaussprechlichen Leidenschaft, und da diese mit jedem
Augenblick steigt, so fühle ich wohl, dass sie nur durch den Besitz der
liebenswürdigen Prinzessin gestillt werden kann, weshalb ich denn entschlossen
bin, sie mir vom Sultan zur Frau zu erbitten.“


1)
Badrulbudur heißt wörtlich: Vollmond der Vollmonde.