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322. Nacht

In dieser Stellung rieb er, ohne daran zu denken, den
Ring, den ihm der Afrikanische Zauberer an den Finger gesteckt hatte, und dessen
geheime Kraft er noch nicht kannte. Sogleich stieg vor ihm ein Geist von
ungeheurer Gestalt und fürchterlichem Ansehen empor, der vom Boden bis an die
oberste Spitze des Gewölbes reichte, und sprach zu Aladdin folgende Worte:

„Was verlangst du? Hier bin ich, bereit dir zu
gehorchen, als dein Sklave und als Sklave derer, welche den Ring am Finger
haben, sowohl ich, als alle übrige Sklaven des Ringes.“

Zu jeder anderen Zeit, und bei jeder anderen Gelegenheit
würde Aladdin, der an solche Erscheinungen nicht gewöhnt war, beim Anblick
einer so ungeheuren Gestalt von Schreck ergriffen worden sein und die Sprache
verloren haben. Allein jetzt, da er einzig und allein an die Gefahr dachte,
worin er schwebte, antwortete er, ohne zu stocken: „Wer du auch sein magst,
bringe mich aus diesem Ort fort, sofern du es vermagst.“ Kaum hatte er
diese Worte gesprochen, als die Erde sich öffnete und er sich außerhalb der
Höhle befand, und zwar gerade an der Stelle, wohin ihn der Zauberer geführt
hatte.

Niemand wird es befremdet finden, dass Aladdin, der so
lange Zeit in der dichtesten Finsternis gewesen war, anfänglich kaum das
Tageslicht zu ertragen vermochte. Er gewöhnte seine Augen erst nach und nach
daran, und indem er allmählich um sich schaute, war er sehr überrascht, keine
öffnung mehr in der Erde zu erblicken. Er konnte gar nicht begreifen, wie er so
plötzlich aus dem Schoß der Erde herausgekommen war. Nur an dem Fleck, wo das
Reisig verbrannt worden war, konnte er die Stelle wieder erkennen, wo die Höhle
war. Als er sich hierauf nach der Stadt wandte, erblickte er sie mitten unter
den sie umgebenden Lustgärten. Auch erkannte er den Weg, auf welchem ihn der
Zauberer hergeführt hatte. Indem er diesen Weg wieder zurückwandelte, dankte
er Gott, dass er noch einmal der Welt wiedergegeben sei, nachdem er bereits
daran gezweifelt hatte, sie je wieder zu sehen. So gelangte er zur Stadt, und
schleppte sich mit vieler Mühe bis in seine Wohnung. Als er in das Zimmer
seiner Mutter trat, verursachte die Freude des Wiedersehens, verbunden mit der
von seinem dreitägigen Fasten herrührenden Schwäche, ihm eine Ohnmacht,
welche eine Weile anhielt. Seine Mutter, die ihn bereits als tot beweint hatte,
unterließ jetzt, da sie ihn in diesem Zustand erblickte, keine Pflege und kein
Mittel, um ihn wieder zum Leben zu bringen. Endlich erholte er sich von seiner
Ohnmacht, und seine ersten Worte waren: „Liebe Mutter, vor allen Dingen
bitte ich dich, gib mir zu essen. Seit drei Tagen habe ich noch nicht das
mindeste zu mir genommen.“ Seine Mutter brachte ihm, was sie gerade
vorrätig hatte, setzte es vor ihn hin, und sagte: „Lieber Sohn, übereile
dich nur nicht, denn das könnte dir schaden, sondern iss ganz langsam und nach
deiner Bequemlichkeit, und nimm dich bei deiner starken Esslust möglichst in
Acht. Ich wünsche nicht einmal, dass du jetzt mit mir redest. Wenn du wieder
hergestellt sein wirst, so wirst du Zeit genug haben, um mir zu erzählen, was
dir begegnet ist. Nach meiner großen Betrübnis, worin ich mich seit Freitag
befunden, und nach all der unsäglichen Mühe, die ich mir gegeben habe, zu
erfahren, was aus dir geworden wäre, da du bei anbrechender Nacht nicht nach
Hause kamst, bin ich jetzt vollkommen getröstet, da ich dich wieder habe.“

Aladdin folgte dem Rat seiner Mutter: Er aß gemach und
allmählich, und trank im Verhältnis dazu. Als er damit fertig war, sagte er:
„Liebe Mutter, ich sollte mich eigentlich gar sehr über dich beschweren,
dass du mich so leicht der Willkür eines Mannes anvertrautest, der den Plan
hatte, mich ins Verderben zu stürzen, und der in diesem Augenblick meinen Tod
für unzweifelhaft und gewiss hält. Allein du glaubtest, er wäre mein Oheim,
und ich war derselben Meinung, wie du. Und konnten wir denn auch wohl eine
andere Meinung von einem Mann hegen, der mich mit Liebkosungen und Wohltaten
überhäufte, und der mir so viele vorteilhafte Versprechungen machte? Allein du
musst nur wissen, liebe Mutter, dass er nichts als ein Verräter, ein
Bösewicht, ein Betrüger war. Er hat mir diese Wohltaten und diese
Versprechungen nur darum getan, um, wie schon gesagt, seinen Zweck zu erreichen,
mich nämlich zu verderben, ohne dass ich oder du die Ursache davon zu erraten
im Stande sind. Ich meinerseits kann versichern, dass ich ihm nie den mindesten
Anlass zu einer so schlechten Behandlung gegen mich gegeben habe. Du wirst dies
selber aus dem treuen Bericht abnehmen können, den ich dir über alles das, was
seit meiner Trennung von der bis zur Ausführung seines verderblichen Plans
vorgegangen ist, abstatten werde.“

Aladdin begann nun seiner Mutter alles das zu erzählen,
was ihm seit dem Freitag, wo ihn der Zauberer nach den umliegenden Gärten vor
die Stadt führte, begegnet war. Ferner, was ihm unterwegs bis zu dem Ort, wo
das große Zauberwerk vor sich gehen sollte, zugestoßen. Sodann erzählte er
von der Räucherung, den Zauberworten, der plötzlich erschienen öffnung der
Erdhöhle, auch der empfangenen Ohrfeige vergaß er nicht, und wie ihm der
Zauberer den Ring an den Finger gesteckt und ihn durch große Verheißungen in
die Höhle hinab zu steigen vermocht. Er verschwieg nichts von allem dem, was er
auf seinem Hin- und Rückweg in den drei großen Sälen, im Garten und auf der
Terrasse gesehen, wo er die Wunderlampe weggenommen, welche er ihr bei dieser
Gelegenheit vorzeigte, nebst den durchsichtigen und buntfarbigen Früchten, die
er auf dem Rückgang durch den Garten abgepflügt hatte. Er fügte hierzu noch
zwei volle Beutel derselben, die er seiner Mutter gab, welche sich aber wenig
daraus machte. Gleichwohl waren diese Früchte samt und sonders kostbare
Edelsteine. Der sonnenhelle Glanz, den sie beim Schein der Lampe, die das Zimmer
erhellte, von sich gaben, hätte allein schon auf ihren Wert aufmerksam machen
müssen. Allein die Mutter Aladdins verstand davon ebenso wenig wie ihr Sohn.
Sie war in großer Dürftigkeit aufgezogen worden, und ihr Mann war nicht so
vermögend gewesen, um ihr dergleichen kostbare Steine zum Schmuck zu kaufen.
Außerdem hatte sie auch nie dergleichen bei einer ihrer Verwandten oder
Nachbarinnen gesehen. Man darf sich daher nicht wundern, dass sie dieselben als
wertlose Dinge betrachtete, die höchstens dazu gut wären, durch die
Mannigfaltigkeit ihrer Farben das Auge zu ergötzen: Weshalb denn auch Aladdin
sie hinter eines von den Polstern des Sofas schob, auf welchem er saß. Er
vollendete sodann die Erzählung seines Abenteuers, und sagte ihr, wie er aus
der Höhle wieder hatte heraus steigen wollen, wie ihm da der Zauberer die Lampe
abgefordert, und auf seine Weigerung die öffnung der Höhle durch seine
Zauberei wieder verschlossen hatte. Nicht ohne Tränen vermochte er das übrige
zu erzählen, indem er ihr den unglücklichen Zustand schilderte, worin er sich
von dem Augenblick an befunden, wo er in der Unglückshöhle lebendig begraben
worden, bis dahin, wo er aus derselben wieder ans Tageslicht hervorgekommen,
durch die Berührung des Ringes, dessen Eigenschaft er noch nicht kannte. Als er
die Erzählung geendigt hatte, sagte er zu seiner Mutter: „Das übrige darf
ich dir nicht erst sagen. Du weißt es ja selber. Da siehst du nun, was ich in
der Zeit meiner Abwesenheit für Abenteuer und Gefahr bestanden habe.“

Aladdins Mutter hatte diese wunderbare und seltsame
Geschichte, welche für sie, die ihren Sohn ungeachtet seiner Fehler zärtlich
liebte, höchst schmerzlich sein musste, ruhig und ohne Unterbrechung angehört.
Nur bei den rührendsten Stellen, wo die Treulosigkeit des Afrikanischen
Zauberers recht sichtbar wurde, konnte sie ihren Unwillen nicht unterdrücken.
Doch jetzt, da Aladdin geendigt hatte, brach sie in tausend Schmähworte gegen
den Betrüger aus. Sie nannte ihn einen Verräter, einen Treulosen, Barbaren,
Meuchelmörder, Betrüger, Zauberer, einen Feind und Verderber des menschlichen
Geschlechts. „Ja, mein Sohn,“ fügte sie hinzu, „es ist ein
Zauberer, und die Zauberer sind eine wahre Pest für die Menschheit. Sie haben
vermöge ihrer Zaubereien und Hexereien mit den bösen Geistern Verkehr. Gott
sei gepriesen, der nicht gewollt hat, dass seine entsetzliche Bosheit ihren
Zweck an dir erreichen sollte! Du bist ihm für die Gnade, die er an dir getan
hat, großen Dank schuldig. Dein Tod war unvermeidlich, wenn du dich nicht
seiner erinnert und seinen Beistand angefleht hättest.“ So sagte sie noch
vieles andere, doch während des Sprechens bemerkte sie, dass Aladdin, der seit
drei Tagen nicht geschlafen hatte, der Ruhe bedürfte. Sie brachte ihn daher zu
Bett, und legte sich bald darauf ebenfalls nieder.