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32. Nacht

Dinarsade vergaß nicht, ihrer Gewohnheit nach, als es
Zeit war, die Sultanin zu wecken, und Scheherasade, ohne ihr zu antworten,
begann sogleich eine ihrer schönen Erzählungen.

Geschichte
der drei Kalender, Königssöhne, und der fünf Frauen zu Bagdad

„Herr,“ sagte sie, an den Sultan das Wort
richtend, „unter der Herrschaft des Kalifen Harun Arreschyd1),
lebte zu Bagdad ein Lastträger, welcher, ungeachtet seines niedrigen und
mühsamen Gewerbes, ein Mann von Geist und heiterer Laune war.

Eines Morgens, als er, wie gewöhnlich mit einem großen
Flecht-Korbe, auf einem Platz stand und wartete, ob jemand seiner Dienste
bedürfte, trat eine junge Frau von schönem Wuchs, mit einem Schleier aus
Musselin, zu ihm heran, und sprach zu ihm auf freundliche Weise:

„Höre, Träger, nimm deinen Korb, und folge
mir.“

Der Träger, hocherfreut über diese wenigen so anmutig
ausgesprochenen Worte, nahm sogleich seinen Korb, setzte ihn auf den Kopf, und
folgte der Frau, indem er ausrief: „O glücklicher Tag! O Tag der guten
Begebnis!“

Bald stand die Frau vor einer verschlossenen Türe still,
und klopfte an. Ein durch seinen langen weißen Bart ehrwürdiger Christ
öffnete, und sie gab ihm Geld in die Hand, ohne ihm ein einziges Wort zu sagen.
Aber der Christ, der wohl wusste, was sie verlangte, ging wieder hinein und bald
darauf brachte er einen großen Krug voll trefflichen Weines. „Nimm diesen
Krug,“ sagte die Frau zu dem Träger, „und setze in deinen Korb.“

Als dieses geschehen war, hielt sie bei der Bude einer
Frucht- und Blumenhändlerin an, und wählte hier verschiedene Arten von
äpfeln, Aprikosen, Pfirsichen, Quitten, Limonen, Zitronen, Orangen, Myrten,
Basiliken, Lilien, Jasmin, und einige andere Arten von Blumen und wohlriechenden
Kräutern. Sie befahl dem Träger, auch dies alles in seinen Korb zu legen, und
ihr zu folgen.

Als sie hierauf an einen Fleischscharren kam, ließ sie
sich 25 Pfund des schönsten Fleisches, das dort zu finden war, abwägen;
welches der Träger ebenfalls in seinen Korb legen musste.

An einem andern Laden kaufte sie Kapern, Estragon, kleine
Gurken, Meerfenchel, und andere Kräuter, alle in Weinessig eingemacht; an einem
andern, Pistazien, Wallnüsse, Haselnüsse, Pinien, Mandeln, und andere
ähnliche Früchte; und noch an einem andern, alle Arten von Mandelgebäcke.

Indem der Träger alle diese Sachen in seinen Korb legte,
und bemerkte, dass er sich füllte, sagte er zu der Frau: „Meine gute Frau,
ihr hättet mir vorhersagen sollen, dass ihr solche Vorräte einkaufen wolltet,
so hätte ich ein Pferd, oder vielmehr ein Kamel genommen, sie zu tragen. Ich
werde bald viel über meine volle Ladung haben, wenn ihr noch mehr kauft.“
Die Frau lachte über diesen Scherz, und befahl abermals dem Träger, ihr zu
folgen.

Sie sprach bei einem Gewürzhändler ein, und versah sich
hier mit allen Arten von wohlriechenden Wassern, Nägelein, Muskat, Pfeffer,
Ingwer, einem großen Stück grauen Ambra, und mehreren andern indischen
Gewürzen.

Hierauf gingen beide fort, bis sie an ein prächtiges Haus
kamen, dessen Vorderseite mit schönen Säulen geschmückt, und dessen Türe von
Elfenbein war. Hier hielten sie an, und die Frau klopfte leise …“

Bei dieser Stelle bemerkte Scheherasade, dass es Tag war,
und hielt inne.

„Im Ernste, meine Schwester,“ sagte Dinarsade,
„das ist ein Anfang, der die Neugier höchlich erregt. Ich glaube nicht,
dass der Sultan sich des Vergnügens wird berauben wollen, den Verlauf zu
hören.“

In der Tat erwartete Schachriar, weit entfernt den Tod der
Sultanin zu befehlen, mit Ungeduld die folgende Nacht, um zu vernehmen, was sich
in dem Hause zutragen würde, von welchem sie erzählt hatte.


1)
Nach dem Tod Mohammeds (im Jahre 634), welcher den Titel Kalif (Statthalter
Gottes) annahm, nannte der von den Muselmännern erwählte Abubeker (sein
Schweigervater) sich Kalif (Statthalter) des Propheten, und dazu